Liebesnaehe
späten Nächten darauf, dass sich etwas bewegt. Dort – das Blitzen eines Sonnenstrahls! Dort – der nächtliche Wind! Kündigen sie etwa das Kommen des Geliebten an? Ja, sie wecken die Vorstellung, sie erregen die Phantasie, und schon entstehen langsam die ersten Bilder. Das alles erscheint mir in der Art und Weise, wie sie sich an die Liebe herantastet, wunderschön. Sie macht sich kein Bild von der Liebe, sondern sie lässt sie entstehen, sie weiß nicht von vornherein, wie sich eine Liebe abspielt, sie hält all diese weit vorauseilenden Ideen von sich fern und schreibt stattdessen minutiös auf, wo und wie sich ihr Verlangen nach Liebe zeigt.
– Das ist erstaunlich, antwortet Katharina, ich habe diese Aufzeichnungen ganz ähnlich gelesen wie Du. Das Seltsame an ihnen ist, dass man zu Beginn der Lektüre gar nicht an das Thema Liebe denkt. Zunächst notiert die Hofdame ja viel über den Alltag, sehr genau, wie Du sagst, und fast immer staunend und neugierig. Man fragt sich laufend, wie sie bloß auf das alles kommt, wie es sein kann,
dass ihr so viel sonst Unbeachtetes auffällt und wie es ihr auf sehr schöne Weise gelingt, knapp und konzentriert zu schreiben. Dann aber, nach einiger Zeit der Lektüre, spürt man, dass sie das alles nicht nur vor sich hin flüstert, wie man anfänglich noch glaubte. Sie flüstert es nicht ins Leere, nein, sie flüstert es nicht vor sich hin, sondern sie möchte gehört werden, ja, sie möchte, dass jemand ihr Flüstern hört und versteht. Und auf einmal begreift man noch mehr, denn man begreift, dass dieses Flüstern einen Geliebten herbeilocken soll und dass es ein magisches Flüstern ist, magisch, beschwörend, etwas in dieser Art.
– Genau, ganz genau, antwortet Jule. Und nun musst Du Dir vorstellen, was mit mir geschah, als ich das alles begriff. Ich spürte nämlich eine tiefe Verwandtschaft, ja, ich spürte plötzlich, dass ich – genau wie die schöne Schreiberin – auf nichts mehr wartete als auf das Erscheinen eines Geliebten. All meine Rückzugsbewegungen, all mein nächtliches Lesen und Wachbleiben – was war es denn anderes als ein Warten auf dieses Erscheinen? Und so begann ich, genau im Stil und Duktus der schönen Schreiberin, dies und das zu notieren und aufzuzeichnen: Alltägliches, das mir aufgefallen oder durch den Kopf gegangen war, möglichst knapp, möglichst konzentriert. Ich habe diese kleinen Texte vor mich hin geflüstert, wie meine große Lehrerin es getan hat, und ich habe mir dadurch wie meine Lehrerin mit der Zeit die Figur eines Geliebten geschaffen. Schließlich habe ich vor meinen Freunden und Bekannten sogar offen zugegeben, einen Geliebten zu haben.
– Du hast von einem Geliebten gesprochen, von einem wirklichen Geliebten?
– Ja, ich habe von einem Geliebten gesprochen, aber mir kam es gar nicht wie eine Lüge vor. Schließlich entwickelte sich in mir sogar die fixe Idee, wirklich einen Geliebten zu haben. Er war nur noch nicht erschienen, er war noch fern, aber es gab ihn bereits, oder, anders gesagt, ich war dabei, ihn aus weiter Ferne in meine Nähe zu locken: durch meine Notizen, durch meine Aufzeichnungen, durch mein eigenes »Kopfkissenbuch«.
Katharina schaut sie ruhig an, Jule bemerkt, dass ihr etwas durch den Kopf geht, anscheinend will sie aber nicht darüber sprechen.
– Was ist? Warum sagst Du denn nichts? Du denkst doch über etwas nach, gib es zu!
– Ich wundere mich, welche Wirkung mein Buchgeschenk gehabt hat, antwortet Katharina. Es war ein Geschenk genau im richtigen Moment an genau die richtige Person. So etwas ist, glaub mir, gar nicht so selten. Ich erlebe es hier in letzter Zeit häufiger. Die Gäste kommen mit ihren Problemen und Ideen zu mir, und ich höre ihnen zu. Wichtig ist, dass alle hier Zeit haben, viel Zeit. Die Stunden laufen uns nicht davon, wir haben nichts zu erledigen, wir können entspannt und ruhig miteinander umgehen, wir können abschweifen, uns von Gott und der Welt erzählen, wir können reden wie Kinder, die sich nicht darum scheren, ob ihr Reden den anderen interessiert. Das alles ist besser als Therapie! … – hat einmal ein Kunde zu mir gesagt. Es ist besser, weil unsere Gesprächszeit nicht von vornherein begrenzt ist, und es ist besser, weil nicht nur einer erzählt, sondern weil wir uns gegenseitig voneinander erzählen. Wir hören einander zu,
und langsam bekommen wir zusammen heraus, was uns tief drinnen, in unserem Innern, beschäftigt.
– So haben wir beide uns aber
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