Liebesnaehe
Rückzugsorten, mit geschlossenen Kabinetten, kleinen Bibliotheken, Musikzimmern und Theaterräumen. Ich habe unendlich viele Ideen, dieser labyrinthische Bau ist ideal für mein Vorhaben …
– Jetzt verstehe ich, Jule. Aber es fehlt noch etwas in Deiner wunderbaren Komposition, es fehlt etwas Entscheidendes …
– Ja, ich wusste, dass Du das sagen würdest. Es fehlt etwas, ich weiß, es fehlt der Geliebte.
– Genau, es fehlt der Geliebte.
Sie schauen einander an und lächeln beinahe zugleich.
– Ich glaube, wir haben wieder ein Thema, das uns beide brennend interessiert, sagt Katharina.
– Dasselbe habe ich gerade gedacht, antwortet Jule. Wir haben wieder ein Thema gefunden, das uns beide stark anzieht.
– Also los. Was ist mit ihm? Wo ist er?
Jule bläht die Backen auf und atmet laut aus.
– Wir sind uns gestern Abend begegnet, in einiger Entfernung von diesem Hotel. Ich war allein spazieren, ich war mit den »schmalen Pfaden durchs Hinterland« unterwegs, die Du mir geschenkt hattest. Plötzlich kam er näher, ganz zufällig, er nahm genau denselben Weg, den auch ich eingeschlagen hatte.
– Und weiter?
– Dort, wo ich saß, gab es eine kleine Sitzgruppe, er näherte sich etwas unsicher, ich dachte schon, er geht vorbei und nimmt nicht weiter von mir Notiz. Dann aber kam er geradewegs auf mich zu und setzte sich mir genau gegenüber.
Zwischen uns war nur ein kleiner, rechteckiger Tisch, wir saßen stumm da und schauten uns an.
– Ihr habt Euch nicht unterhalten?
– Nein, wir haben kein Wort miteinander gewechselt, wir haben uns nur einige Zeit angeschaut, ganz direkt, wir haben uns in die Augen geschaut. Es war wie in der berühmten MoMa-Performance the artist is present , ich habe Dir einmal davon erzählt, weißt Du?
– Ja, ich erinnere mich. Und weiter? Seid Ihr zusammen zurück zum Hotel gegangen?
– Aber nein. Nach einer Weile ist er aufgestanden und weitergegangen. Mehr war nicht, mehr ist nicht passiert. Und doch befinden wir uns längst in einer starken, geheimnisvollen Geschichte.
– Habt Ihr Kontakt? Schreibt Ihr Euch?
– Ja, wir haben Kontakt, wir stehen sogar in engem Kontakt. Aber mehr verrate ich jetzt nicht.
– Hast Du ihn gestern Nacht noch einmal gesehen?
– Nein, aber ich habe ihn heute Morgen gesehen, sehr früh, direkt nach dem Aufstehen.
– Und wo? Wo habt Ihr Euch gesehen?
– Langsam, Katharina, langsam …, ich möchte Dir nicht gleich alles auf einmal erzählen, die Geschichte sollte ihre Spannung und ihr Geheimnis behalten. Ich möchte aber von Dir eine Auskunft, ich brauche sie dringend, und ich hoffe, dass Du mich diesmal nicht enttäuschst.
– Du möchtest wissen, welchen Beruf Johannes hat, Du möchtest wissen, womit er seine Zeit verbringt.
– Ja, das möchte ich wissen, unbedingt, ich muss es wissen, sonst komme ich mit meinem Projekt nicht voran.
Katharina steht auf und geht durch die Buchhandlung, ganz nebenbei schichtet sie einige Stapel Bücher um, die auf den Ablagetischen vor den Regalen liegen.
Sie blickt sich nicht um, als Jule sie sagen hört:
– Johannes und ich – wir sind sehr gut befreundet, so wie wir beide, Jule, sehr gut befreundet sind. Ich sollte Dir eigentlich nicht sagen, was er beruflich tut, aber ich sage es Dir jetzt, weil ich weiß, dass es für Deine Arbeit wichtig ist und dass Du es für Dich behältst und dass Du es im Kontakt mit ihm nicht ausnutzt: Johannes ist Schriftsteller, Johannes schreibt Romane, Erzählungen, Dramen und Essays. Jetzt weißt Du es, jetzt weißt Du, was Du unbedingt wissen wolltest.
Jule reagiert einen Moment nicht, dann aber steht sie ebenfalls auf und geht zu Katharina hinüber.
– Danke, meine Liebe. Ich habe mir ja bereits so etwas gedacht, ich hatte bereits eine Vermutung genau in diese Richtung. Ich verschwinde jetzt, ich muss arbeiten, wir sehen uns später, ich melde mich wieder. Ach, noch eins: Darf ich dieses Buch mitnehmen?
Sie hebt das Buch hoch, in dem sie bereits gelesen und das sie die ganze Zeit in den Händen gehalten hat.
– Natürlich, antwortet Katharina, aber vergiss nicht, mir von Deiner Lektüre zu erzählen.
Sie umarmen sich, dann verlässt Jule Danner die Buchhandlung und geht in raschen Schritten, als hätte sie ein bestimmtes Ziel fest vor Augen, davon. Katharina aber
schüttelt kurz den Kopf. Seltsam, was sich da zusammenbraut und entwickelt! Sie geht hinüber zu dem Vorhang, hinter dem sich die kleinen Karteikästen mit den Angaben über die
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