Liebesnaehe
Stuhl vor dem Fenster und blickt auf den Umschlag des Buches. Langsam schlägt er die erste Seite auf, wartet ein wenig und beginnt dann, mit ruhiger Stimme den Text zu lesen.
Er liest die ersten drei Tagebuch-Eintragungen, dann steht er auf und schaltet die Kamera aus.
Er wird wieder ruhiger, die starke Anspannung während des Lesens klingt langsam ab. Satz für Satz hat er sich eingeschrieben in ihr Projekt, und für diesen Anlass hatte er den passenden Text zur Hand. Ein Mann etwa seines Alters flickt seine Hose, erneuert das Band seines Wanderhutes und verlässt seine einfache Hütte, um sich auf
einen weiten Weg zu machen: Die Gottheiten der Verführung betörten mein Herz und die Wegegötter winkten mir zu …
Er liest den Text noch einmal und nimmt sich vor, das Buch mitzunehmen. Jule und er – sie sollten sich die Lektüren teilen, ja, sie sollten beide bestimmte Texte lesen, jeder für sich, aber beide denselben Text. Solche Lektüren entwerfen einen Spielraum von Anspielungen und machen die Annäherung noch intensiver.
Genug, es ist jetzt genug, Jule Danner könnte gleich erscheinen, und er möchte ihr nicht in diesem Zimmer begegnen. Er sucht in einem der Wandschränke nach einem Stoffbeutel, in dem er seine Kleidungsstücke unterbringen könnte. Rasch findet er etwas Geeignetes, dann geht er ins Badezimmer und entdeckt dort ein Paar Frottee-Sandalen, die noch in einer dünnen Plastikfolie stecken. Er reißt die Folie auf und nimmt die Sandalen heraus, dann schlüpft er hinein, füllt den Stoffbeutel mit seinen Kleidungsstücken und öffnet vorsichtig die Zimmertür.
Er schaut auf den Flur, und als er sieht, dass die junge Frau wahrhaftig in einem der anderen Zimmer verschwunden ist und dort arbeitet, zieht er die Zimmertür leise hinter sich zu und macht sich noch einmal auf den Weg zum Lift, um aus dem Tiefgeschoss der Bäder und Saunen einen weiteren Teller türkischer Süßspeisen hinaufzuholen.
Als er den Lift betritt, pfeift er vor sich hin. Er kommt sich vor wie einer, für den sich etwas Besonderes, lange
nur Erträumtes endlich verwirklicht hat. Dann fährt er sich mit der rechten Hand durchs Gesicht, als müsste er die letzten Traumreste abstreifen.
20
SIE ÖFFNET die Tür ihres Hotelzimmers und geht rasch hinein. Auf den ersten Blick sieht sie, dass es in dem großen Raum einige Veränderungen gibt. Ein Teller mit Süßspeisen steht auf ihrem Schreibtisch, das Wasserglas ist plötzlich gut gefüllt, und das Stativ mit der Video-Kamera steht hinter dem Bett, so dass die Kamera auf einen Stuhl gerichtet ist, der schräg vor dem Fenster steht.
Sie bleibt eine Weile stehen und studiert dieses Bild. Es ist beinahe so, als hätte sie selbst diese Szenerie entworfen. Wenn sie es wirklich getan hätte, hätte sie auf dem Stuhl Platz genommen und in einem Buch gelesen. Ja, eigentlich hatte sie sowieso vorgehabt, als Nächstes eine Lektüre-Szene zu drehen, nun ist er ihr anscheinend damit zuvorgekommen.
Der Abstand zwischen uns wird immer geringer, denkt sie, eigentlich ist kaum noch zu unterscheiden, wer von uns einen bestimmten Einfall gehabt oder eine Vorgabe gemacht hat. Und das alles geschieht ohne ein einziges direkt gewechseltes Wort!
Kurz stellt sie sich vor, dass sie miteinander reden, ihr fällt aber nichts ein, jedes mögliche Wort kommt ihr banal, träge und schwach vor. Schon die Anrede wäre nicht leicht. »Hallo!« – vollkommen unmöglich, »Einen schönen guten Morgen!« – mein Gott, nein, so geht es nicht. Es wäre überhaupt falsch, die üblichen Floskeln und Redensarten zu benutzen, man müsste vielmehr so miteinander reden, als redete man schon immer miteinander. Also: Keine Einstiege, keine Umwege, sondern gleich so, als befänden sie sich beide seit Jahren in einem ununterbrochenen Dialog. Oder – ganz anders: Man müsste so miteinander zu reden beginnen, dass man sich aus dem gemeinsamen Schweigen heraus erst langsam zu den ersten Worten hinhangelt. Sich hinhangeln? Wie könnte das gehen? Wie könnten diese ersten Laute sich anhören?
Erste Laute sind Laute von Kleinkindern, herrjeh, sie ist jetzt aber auf einem ganz falschen Weg. Oder? Oder doch nicht?! Wie hören sich denn Laute von Kleinkindern an? »Ma«, »Pa« – Pa?! … – Pa-pa-pa-pa – das kennt sie doch, das hat sie doch einmal irgendwo gehört? Aber wo genau?! Pa-pa-pa-pa – ach ja, richtig, das ist eine Szene aus Mozarts »Zauberflöte«, jetzt erinnert sie sich. Papageno, Papagena –
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