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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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kann ich Ihnen einmal eine Freude machen?

    Die junge Frau lächelt wieder, aber jetzt so, als habe sie bereits die ganze Zeit mit einem Gedanken gespielt. Sie tritt einen kleinen Schritt näher und flüstert leise:
    – Angestellte des Hotels dürfen diese Süßigkeiten höchstens einmal heimlich probieren. Verstehen Sie, was ich meine?

    Er lächelt zurück, dann nickt er.
    – Ich bringe Ihnen später einen kleinen Teller. Wo soll ich ihn hinstellen?
    – Oh, das wäre wirklich sehr nett. Stellen Sie ihn in der kleinen Bibliothek im Eckraum dieses Stockwerks ab,
stellen Sie ihn in eins der halbleeren Regale gleich rechts vom Eingang.
    – In Ordnung, das mache ich.
    – Danke, vielen Dank!
    – Ich danke Ihnen!

    Die junge Frau zieht sich zurück, er hört sie draußen auf dem Gang verschwinden. Sie weiß genau, wie es um dich steht, denkt er, sie weiß, dass all deine vorsichtigen Aktionen in diesem Hotelzimmer erste, kleine Liebesbeweise sind. Wenn es um Liebe geht, öffnen sich anscheinend sofort die Türen. Ein Blick, ein Satz, eine Andeutung, ein Lächeln – und schon wird die halbe Welt schwach. Auch diese junge Hotelangestellte ist schwach geworden, insgeheim sehnt sie sich danach, ebenfalls umworben zu werden, insgeheim geht es ihr gar nicht nur um die türkischen Süßspeisen, sondern viel eher darum, etwas in dieser Art von einem Freund oder Liebsten geschenkt zu bekommen. Also bin ich ein Freundesersatz, denkt er weiter, also bin ich das ferne Abbild des Geliebten, auf den sie warten wird.

    Er schaut sich um, das Zimmer wirkt aufgeräumt, nur die Bettdecken liegen noch in sich verknäult auf den nicht glatt gestrichenen Laken. Der Schreibtisch ist beinahe leer, ein halb gefülltes Glas steht dort einsam, als habe Jule Danner es einfach vergessen. Er stellt den Teller mit den türkischen Süßspeisen auf den Tisch, dann nimmt er das Glas in die Hand und riecht an der Flüssigkeit. Oh, ein Glas Sekt! Das hatte er nicht vermutet. Er setzt das Glas an den Mund und trinkt es in sehr langsamen Schlucken
leer, er setzt immer wieder von Neuem an, Schluck für Schluck, er kostet den Sekt, als müsste er später seine Eindrücke genau beschreiben.

    Dann geht er mit dem Glas zur Minibar und schaut, ob sich dort noch eine gefüllte Sektflasche befindet. Ja, eine kleine, letzte Flasche steht noch dort, eingezwängt zwischen den vielen Bierflaschen. Er nimmt sie heraus, schraubt sie auf und gießt den Inhalt in das leere Glas. Dann stellt er es zurück auf den Schreibtisch und rückt den Teller mit den türkischen Süßspeisen daneben. Voilà, eine kleine Komposition!

    Langsam geht er Richtung Tür und blickt sich noch einmal um. In der hinteren rechten Ecke steht ein schweres Stativ, auf dem die Video-Kamera postiert ist. Und gleich links, neben dem Schreibtisch, steht eine geöffnete Tasche mit weiteren Aufnahmegeräten. Sein Blick durchstreift den Raum und geht zwischen diesen Dingen und dem vor der Schrankwand aufgehängten Kimono hin und her. Dann hat er plötzlich eine Idee, die sich wie eine kleine Flamme in ihm entzündet.

    Er eilt zur Zimmertür und schließt sie deutlich hörbar. Er lauscht einige Momente, ob sich die junge Frau noch einmal von draußen nähert. Nein, nichts da, sie ist anscheinend längst wieder in einem der anderen Zimmer verschwunden. Er dreht sich um und geht auf den Kimono zu. Er betastet den feinen, dünnen Seidenstoff und hält ihn ins Licht. Dann entkleidet er sich langsam und legt seine Kleidungsstücke auf dem Sofa ab. Er nimmt den
Kimono vom Bügel und streift ihn über. Er passt, ja, als hätte Jule Danner dieses Kleidungsstück eigens für ihn bestellt. Aber ja, im Ernst: Sie hat es für ihn bestellt, für wen sonst sollte sie einen Männer-Kimono bestellt haben?

    Er geht hinüber zu dem Stativ und rückt es hinter das breite Bett. Dann stellt er einen Stuhl in der Nähe des Fensters auf und sucht im ganzen Zimmer nach einer Lektüre. Er findet ein dünnes, schön eingebundenes Buch, anscheinend ist es ebenfalls ein altjapanischer Text, wie das »Kopfkissenbuch«. Er liest den Titel, »Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland«, er flüstert ihn leise und schlägt dann das Buch auf. Er blättert darin, er überfliegt einige Seiten, er hat sofort verstanden, dass es sich um das Tagebuch einer langen Wanderung durch den Norden Japans handelt.
    Er geht noch einmal zurück zur Kamera, schaut auf das Display und betätigt schließlich den Aufnahmeknopf. Dann setzt er sich auf den

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