Liebesnaehe
das seltsame Vogelpärchen trifft unerwartet aufeinander, und sie erschrecken darüber so, dass sie kein vernünftiges Wort herausbringen und zu plappern beginnen: Pa-pa-pa-pa-Papageno! – Pa-pa-pa-pa-Papagena! …
Sie kichert vor sich hin und betrachtet noch immer die kleine Bühne, die er in ihrem Zimmer aufgebaut hat. Dann geht sie hinüber zu ihrem Stativ und schaut sich im
Display der Kamera die Sequenz an, die er gedreht hat. Sie sieht und hört, wie er die Anfangspassage von »Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland« liest, sie schaut sich die Szene mehrmals an und achtet jedes Mal auf ein anderes Detail: Den Ausdruck seines Gesichtes, die beiden schlanken, großen Hände, die das Buch halten, den geschlossenen, dunkelroten Kimono, der zum Glück von der Lektüre nicht ablenkt, das Sonnenlicht, das von der Seite einfällt. Gut, denkt sie, das hat er gut inszeniert, ich hätte es nicht besser machen können.
Wo aber ist das Buch, aus dem er gelesen hat? Sie sucht es im ganzen Zimmer, findet es aber nicht. Und wo ist der dunkelrote Kimono? Sie durchstöbert alle Schränke, sie geht ins Bad – auch der Kimono ist nicht da. Sofort sieht sie ihn, wie er sich im Kimono, das Buch in der Hand, auf den Weg macht. Er geht durch die Flure dieses Hotels, und er zieht sich irgendwohin zurück, um weiter im Buch der großen Wanderung zu lesen. Wie heißt es darin noch einmal? Richtig: Ich stand an der Wegkreuzung der Traum-Illusionen …
Sie muss wieder kichern, kurz hält sie sich sogar die Hand vor den Mund. Wie rasch und elegant sie sich inzwischen die Bälle zuspielen! Sie braucht gar nicht mehr lange nachzudenken, um zu ahnen, wo er sich jetzt aufhalten könnte. In der Buchhandlung? Vielleicht. Draußen, auf der großen Freianlage? Eher nicht. In der Bibliothek? Ja genau, sie könnte wetten, dass er dort sitzt, eine Tasse Tee trinkt und in »Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland« liest. Und sie?! Was wird sie als Nächstes tun? Sie
wird sich umziehen, sie wird ein asiatisches Kleid anziehen, eines der schönsten, das sie dabeihat. Und dann wird sie sich zu ihm auf den Weg machen. Pa-pa-pa-pa, sie kichert noch einmal.
Sie öffnet eine Schranktür und wirft einen Blick auf die Kleider, die sie mitgebracht hat. Dann wählt sie ein hochgeschlossenes, mit einem kleinen Stehkragen und sehr kurzen Ärmeln. Sie nimmt es aus dem Schrank und geht ins Bad, um sich umzuziehen. Bevor sie das aber tut, kommt sie noch einmal in das große Zimmer zurück. Sie holt ihren Laptop hervor, schaltet ihn ein und ruft den Musik-Ordner auf. Kurz darauf ist der gesamte Raum voller altjapanischer Musik: eine Flöte, eine Zither. Sie setzt sich seitlich auf das Bett und hört eine Weile zu, dann geht sie ins Bad zurück und zieht sich nun wirklich um.
Als sie wieder im Zimmer erscheint, hat sie das Gefühl, eine andere zu sein. Sie ist jetzt eine Frau aus hohem Haus, die sich herausgeputzt hat. Sie geht langsamer, sie schaut zu Boden, sie bewegt sich so scheu und zurückhaltend, als wäre die kleinste Regung schon eine zu starke Offenbarung. Ihre langsamen Bewegungen passen genau zu der Musik, die sie hört, die gedehnten, auf der Stelle tretenden Klänge umhüllen sie, als bewegte sie sich in ihrer geheimen Mitte.
Sie nimmt das Buch, das Katharina ihr mitgegeben hat, zur Hand und setzt sich. Dann kostet sie von den Süßspeisen und trinkt etwas von dem kühlen Sekt, der in ihrem großen Wasserglas perlt. Sie lehnt sich weit zurück
und schlägt das Buch auf, sie will mit der Lektüre beginnen, dann hält sie inne und schaut auf.
»Die letzten Tage meines Vaters« – was hatte sich eigentlich damals abgespielt, in Georgs letzten Tagen? Niemand ahnte, dass er herzkrank war, nur er selbst wusste es, denn sein Arzt hatte ihn wohl eindringlich gewarnt. Das aber behielt Georg für sich, selbst Katharina erzählte er nichts davon, geschweige denn ihrer Mutter oder ihren Geschwistern. Auch sie, Jule, wusste davon nichts, obwohl sie doch sein Lieblingskind war, das jüngste von den Sechsen, denen er unterschiedlich viel Zeit widmete. Manche vernachlässigte er richtiggehend, weil er mit ihren Interessen nichts anfangen konnte, für die anderen aber hatte er reichlich Verständnis und tat viel für sie.
Am meisten beschäftigte er sich mit ihr, sie war das einzige Kind, das ihn in seiner Galerie besuchte und sich dort unbegrenzt aufhalten durfte. Schon mit drei, vier Jahren verbrachte sie ganze Tage in seiner Galerie, »Jule geht nicht
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