Liebesnaehe
in den Kindergarten, Jule geht lieber mit mir«, sagte er lachend und nahm sie am frühen Morgen in sein großes Reich mit. In seinem hellen, weiten Büro mit Blick auf einen japanischen Innenhofgarten schmierte sie riesige weiße Leinwände voll, oder er gab ihr Papiere zum Einheften in die schwarz-weißen Leitz-Ordner, oder er ließ sie die Bilder und Ausstellungsstücke in der Galerie fotografieren, ganz so, wie sie es wollte.
Auf beinahe alles, was sie tat, reagierte er mit starker Zustimmung, ja Begeisterung, und selbst wenn sie irgendwelchen
Blödsinn machte, fand er dafür noch ein paar anerkennende Worte. Einmal schmierte sie eine Leinwand mit Bananenbrei ein und garnierte sie mit großen Klecksen Blaubeermarmelade – selbst eine solche Sauerei feierte er und zeigte sie später Bekannten und Freunden.
Irgendwann legte er dann auch ein kleines Archiv mit ihren Arbeiten an und katalogisierte sie, als wären es Arbeiten seiner Künstler. Mit den Jahren wuchs das »Jule-Archiv« erstaunlich, und als sie achtzehn wurde, schloss er seine Galerie für zwei Wochen und baute zusammen mit einem befreundeten Künstler das »Jule-Archiv« in allen Räumen auf: Ihre ersten Zeichnungen und Bilder, ihre Kinderbücher, ihre Kinderkleidung, ihr Spielgerät, alles, was er mehr oder minder heimlich aufbewahrt hatte. Keines ihrer Geschwister erschien zu dieser Ausstellung, und selbst Henrike, ihre Mutter, konnte ihre Eifersucht auf diese, wie sie gesagt hatte, »maßlose Zuwendung« nicht verbergen.
»Maßlos«, ja, so war Georg ihr gegenüber gewesen, nie tadelte oder kritisierte er sie, all ihre Neigungen begleitete er mit größter Aufmerksamkeit und nahm sie ernst. Schon mit vierzehn, fünfzehn hatte sie den Wunsch, später einmal Künstlerin zu werden, was für ihn, Georg, damals beinahe schon selbstverständlich war: »Jule wird einmal eine bedeutende Künstlerin, eine ganz Große, das sage ich Euch« – so ließ er sich überall verlauten. Doch dann kam es zunächst ganz anders.
Wider Erwarten bestand sie die Aufnahmeprüfung der Kunstakademie nicht, ein paar von Georgs Neidern und Gegnern wirkten kräftig daran mit, egal, jedenfalls stockte das »Jule-Projekt«, wie er es immer genannt hatte, plötzlich. Sie ließ sich durch diesen ersten Rückschlag nicht irritieren, nein, sie ging nach Paris und begann dort eine Ausbildung, und später setzte sie diese Ausbildung in verschiedenen anderen Städten im Ausland fort und beendete sie.
In all diesen Städten besuchte er sie immer wieder, er mietete ihr jeweils eine kleine, bequeme Wohnung, er telefonierte alle paar Tage mit ihr, und er war schließlich nicht davon abzubringen, ihr beinahe jeden Tag eine Postkarte oder einen kurzen Brief zu schreiben. Mit seiner schönen Handschrift bemalte er die feinen weißen Bögen aus der Papierdruckerei in der Nähe seiner Galerie, in der er sich Briefpapier nach seinen eigenen Wünschen herstellen ließ. Es waren mattweiße, quadratische Bögen, »das ist das beste Format, das es gibt«, sagte er und begann prompt, auf die klassischen DIN-Formate zu schimpfen, die er »sauhässlich« fand.
Als einziges von all seinen Kindern hielt sie auch zu ihm, als er sich von Henrike trennte, nur hatte es ihr wehgetan, dass er anfangs mit ihr nicht darüber sprechen wollte. Mit niemandem sprach er anfangs darüber, trotzig und stur traf er seine Entscheidungen. Auf ihre Fragen hin nannte er aber immerhin den Namen seiner neuen Liebe, und so bekam sie heraus, dass es sich um eine Frau handelte, die mitten im Zentrum Münchens eine Buchhandlung
besaß. Sie schaute sich diese Buchhandlung mehrmals von außen an, sie ging vor dem Schaufenster auf und ab, aber sie ging nicht hinein, selbst dann nicht, als die Buchhändlerin einmal zu ihr herauskam und sie ausdrücklich einlud, in die Buchhandlung zu kommen und eine Tasse Tee mit ihr zu trinken.
Vielleicht hätten ihre heimlichen Spaziergänge und ihre versteckten Beobachtungen irgendwann aufgehört, sie weiß es nicht, jedenfalls erinnert sie sich genau an den Tag, als sie auf dem Londoner Flughafen stand und auf Georg wartete. Das Flugzeug war längst gelandet und die Reisenden aus München waren in die Ankunftshalle geströmt, er aber war nicht unter ihnen gewesen.
Sie machte sich Sorgen, und sie überlegte, mit wem sie Kontakt aufnehmen könnte. Schließlich entschied sie sich für Katharina, sie ermittelte ihre Telefonnummer, und obwohl sie noch nie mit ihr gesprochen, geschweige
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