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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Mutter und Tochter, ja, so kam ihre Beziehung zueinander vielen vor. Mit der Zeit wurden sie offenbar, sowohl was das Aussehen als auch was ihre Kleidung betraf, einander immer ähnlicher. Arm in Arm waren sie manchmal abends in München zusammen unterwegs, besuchten eine Theateraufführung oder ein Konzert oder gingen etwas essen.

    Ihr kam es oft so vor, als wären sie dabei nicht allein, sondern zu dritt, ja, manchmal glaubte sie sogar zu spüren, dass Georgs Blick auf ihnen beiden ruhte. Sie erzählte Katharina nichts davon, sie verschwieg solche Anwandlungen,
doch bis zum gegenwärtigen Tag, bis zu diesem Moment, in dem sie in einem asiatischen Kleid wie eine schöne, gehorsame Tochter an einem Fenster saß und hinaus in den stahlblauen Himmel blickte, hatte sich dieser Glaube an Georgs Gegenwart unverändert erhalten.

    Sie schlägt das Buch auf und liest den ersten Satz: Heute war der Himmel wolkenlos und klar; er machte dem Sommermonat »Heiter-Mild« alle Ehre – ein Tag, an dem der Bergkuckuck … aus den Bergen herübertönte …

    Sie schaut wieder hinaus, hoch hinauf zu den Bergen. Über Mittag wird sie spazieren gehen, nachdem sie ihn zuvor noch in der Bibliothek besucht hat. Sie werden beide in ihren Büchern lesen, sie werden in der kleinen Bibliothek in einem Eckraum des Hotels sitzen, Tee trinken und lesen. Sie steht auf und geht langsam hinüber zu dem Stativ, auf dem noch immer die Videokamera in Richtung des Stuhls postiert ist. Sie schaltet die Kamera ein, dann geht sie zurück und setzt sich wieder.

    Sie schaut minutenlang still hinaus, sie hält das geschlossene Buch in beiden Händen. Das Sonnenlicht konturiert ihr Gesicht, es kommt ihr vor, als male es mit an ihrer Erscheinung. Aus weiter Ferne dringt ein leises Rauschen aus den Bergen bis her zu ihr, »ein Waldesrauschen«, denkt sie und hat plötzlich eine unbändige Lust, in den dunklen Wäldern unterhalb der waldlosen, steinigen Partien zu verschwinden.

    Du fehlst mir, denkt sie, mein Gott, wie Du mir fehlst!

21
    ER KOMMT aus den Tiefen des Kellergeschosses mit einem Teller voller türkischer Süßspeisen hinauf in den zweiten Stock und sucht nach der Bibliothek, die sich in einem der Eckräume des Stockwerks befindet. Er trägt den dunkelroten, leichten Kimono und hält das Buch »Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland« in der Linken. Jetzt, kurz vor Mittag, ist es in den Bädern und Saunen unten im Tiefgeschoss langsam voll geworden, viele Hotelgäste schwimmen vor dem Essen noch einige Runden oder setzen sich für eine Viertelstunde in die Sauna. Auch draußen, auf der großen Terrasse mit den orangefarbenen Sonnenschirmen, wird es nun allmählich voller, er ist froh, dass er sich mit Katharina zu einem Spaziergang und einem Essen außerhalb des Hotels verabredet hat.

    Die kleine Bibliothek ist zum Glück leer, seltsam, die meisten Menschen zieht es immer dorthin, wo sie sich gegenseitig im Wege stehen. Hierhin dagegen, wo es angenehm ruhig und still ist und man sich gut konzentrieren kann, zieht es niemanden. Er stellt den Teller mit den Süßspeisen gleich rechts vom Eingang ab. Dann geht er langsam an den bis zur Decke reichenden Regalen entlang und schaut sich die langen Bücherfluchten genauer an. Manchmal benutzt er eine kleine Leiter, um bis zu den höchsten Regalen hinaufzukommen, er nimmt einige Bücher heraus und blättert in ihnen, dann beendet er seinen Rundgang und holt sich von einem kleinen Rundtisch
mit Getränken und Keksen, der in der Mitte der Bibliothek steht, eine Tasse Tee.

    Er setzt sich und nippt an dem hellgrünen, nicht allzu heißen Getränk, es ist kräftig und belebt angenehm. Dann schlägt er das Buch auf, das er zur Lektüre mitgebracht hat, und vertieft sich in die lange Wanderung eines japanischen Dichters durch die hohen Berglandschaften des japanischen Nordens. An den Stationen, die der Dichter einlegt, erinnert er sich oft an einige der anderen Wanderer und Dichter, die bereits vor ihm diese Station besucht und diesen Besuch in einem kurzen Gedicht festgehalten haben. Anscheinend hat er all diese Gedichte seiner Vorläufer im Kopf und bezieht sich auf sie, indem auch er an beinahe jeder Station ein kleines Gedicht schreibt. Die Gedichte haben nur drei Zeilen, sie gefallen ihm in ihrer lakonischen Kürze besonders: Dort, wo die Flut steigt:/ die staksigen Beine des Kranichs,/ umspült von kühlen Wellen …

    Was für eine schöne Geste! Sich an jeder Station an einige jener Wanderer zu

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