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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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erinnern, die früher ebenfalls an dieser Station haltgemacht haben! Jede Rast wird dadurch zu einem Ort der Einkehr. Als riefe man die Seelen der Abwesenden zu Hilfe, ja, als sammelte man sie um sich, wie Tauben, die zurückkehren in ihren Taubenschlag und danach wieder weit davonfliegen! Landschaften mit ziehenden Vogelscharen in weiten, entfernten Himmelsregionen – dieses Bild stellt sich ein, nachdem er von den Aufenthalten des Dichters gelesen hat.

    Er liest eine Weile und legt das Buch dann für einen Moment zur Seite. Jetzt ist sie wohl wieder in ihrem Zimmer. Sie wird den Teller mit den Süßigkeiten bemerken und bald darauf auch sehen, dass er mithilfe ihrer Video-Kamera eine neue Sequenz gedreht hat. Sie wird den frisch eingeschenkten Sekt kosten, dann wird sie sich die neue Sequenz anschauen. Sie wird erkennen, dass er den dunkelroten Kimono trägt, den sie auf das Zimmer bestellt hat. Sie wird sich umziehen, ja, sie wird ebenfalls eine asiatische Kleidung anziehen, vielleicht auch einen Kimono, vielleicht aber auch ein asiatisches Kleid.

    Es ist unglaublich, wie stark und selbstverständlich sie bereits miteinander korrespondieren. Das reicht bis tief in die Stimmungen, so dass er beinahe genau sagen könnte, wie es ihr in ihrem Zimmer gerade ergeht. Inzwischen hat er eine deutliche Vorstellung von ihrer Art zu empfinden und zu handeln, nur kennt er die Hintergründe noch nicht. Katharina kennt sie, irgendwann wird er sich trauen, sie danach zu befragen, und vielleicht wird sie ihm einige Auskünfte geben. Vorläufig ist das alles aber nicht wichtig, viel wichtiger ist, dass sie ihr gemeinsames Projekt fortsetzen.

    Er schaut zur Seite, als sich die Tür der Bibliothek öffnet und sie hereinkommt. Wahrhaftig, sie trägt ein asiatisches Kleid von der Art, wie er vermutet hatte: hochgeschlossen, mit einem kleinen Stehkragen und kurzen Ärmeln. Sie lächelt ihm kurz zu, dann geht sie hinüber zur anderen Seite des Zimmers und nimmt – ihm genau gegenüber – in der anderen Ecke Platz. Auch sie hat ein
Buch dabei, sie legt es auf den kleinen, runden Tisch direkt neben dem Lesestuhl.

    Unmerklich hat ihr Erscheinen seine Lippen geöffnet, plötzlich spürt er es, ja, ein Außenstehender würde ihn mit offenen Lippen staunen sehen. Und jetzt? Wie geht es weiter? Er überlegt nicht lange, sondern steht auf und geht in die Mitte der Bibliothek, um eine leere Tasse mit grünem Tee zu füllen. Dann trägt er die Tasse zu ihr hinüber und stellt sie neben das Buch auf den Tisch. Er schaut sie dabei nicht an, er möchte sie nicht dazu animieren, eine dankende Geste zu machen. Dann geht er zurück zu seinem Stuhl und setzt sich wieder.

    Es ist vollkommen still. Sie lesen, ab und zu trinkt einer von ihnen etwas Tee. Von draußen dringen keine Geräusche herein, stattdessen blickt man, wenn man aus den Fenstern schaut, auf die den Bergen abgewandte Seite des weiten, lang gestreckten Tals, in dessen Mitte ein kleiner Bach fließt. Das helle Grün der Wiesen beruhigt, und die vereinzelt hier und dort stehenden Kiefern wirken wie stumme Wächter eines geheimen Ordens, der sich der Stille verschrieben hat. Wie verehrungswürdig!/ Zarte Blätter – grüne Blätter/ von Sonnenstrahlen durchglänzt …, liest er und stellt sich vor, wie der einsame Wanderer die Kiefernwälder der japanischen Felslandschaften durchstreift. Er geht sehr langsam, er bleibt immer wieder stehen, dann studiert er Naturbild für Naturbild und reiht diese Bilder in seiner Erinnerung aneinander. Ein Bildersammler, ein Bilderhüter, ein Bilderbewahrer!

    Sie schauen beide zugleich auf, als draußen vor der Tür eine fremde Person erscheint. Sie bleibt dort stehen und blickt hinein, sie schaut irritiert und scheint sich nicht zu trauen, den Raum zu betreten. Sicher machen sie beide einen seltsamen Eindruck, ja, es könnte so sein, dass sie den Eindruck erwecken, allein sein und bleiben zu wollen. Die asiatische Kleidung betont ihre Zusammengehörigkeit und wird auf andere so wirken, als wünschten sie keine Fremden in ihrer Nähe. Diese Kleidung hat etwas Strenges und Förmliches, sie hält andere Menschen auf Distanz.

    Er schaut genauer hin und bemerkt, dass es sich um das Zimmermädchen von vorhin handelt. Die junge Frau öffnet schließlich langsam die Tür und kommt herein. »Entschuldigen Sie, ich möchte nicht stören, ich habe hier etwas vergessen«, sagt sie und geht gleich rechts vom Eingang an dem dort noch halb leeren Regal entlang.

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