Liebesnaehe
Sie erkennt den Teller mit türkischen Süßigkeiten und nimmt ihn aus dem Regal, dann schleicht sie wieder hinaus und schließt die Tür sacht hinter sich.
Jetzt wirkt ihre Zusammengehörigkeit schon so stark, dass sich nicht jeder ohne Umschweife in ihre Nähe traut. Sie erscheinen als ein Paar, das nicht gestört werden will. Er liest weiter in seinem Buch, blickt aber dann und wann heimlich zu ihr hinüber. Auch sie liest, sie wirkt sehr konzentriert, genau das gefällt ihm an ihr so sehr: wie sie sich in etwas vertieft, wie sie mit leicht geröteten Backen und leicht wirrem Haar eine Sache verfolgt. Die Strähnen ihrer Haare sind dann stark gewellt und vermitteln den
Eindruck großer Erregung, manchmal wirkt das alles, als beteiligte sie sich gerade an angeregten Debatten und gäbe sich Mühe, glaubhaft und eindeutig zu erscheinen. Das alles verleiht ihr das Aussehen einer Schülerin kurz vor dem Abitur, sie kämpft sich durch Berge von Wissen, und sie schaufelt dieses Wissen beherzt zur Seite, um sich einen eigenen Weg zu bahnen.
Sie hat kleine, aber kräftige Hände, manchmal erscheinen sie wie kindliche, zusammengeballte Fäuste. Irgendwann hat sie vielleicht mit diesen Händen einen besonderen Sport getrieben, er überlegt, aber ihm kommt kein guter Gedanke. Wie schön wäre es, eine dieser Hände zu fassen, das wäre ein starker Halt, er würde den Druck spüren, der von ihnen ausginge, es wäre ein fester, stabiler Druck, der ihn nach einiger Zeit unweigerlich dazu verleiten würde, sie zu küssen, ja, der Händedruck würde die Erregung des übrigen Körpers in Gang setzen und steigern, und diese Erregung würde irgendwann zu einem Kuss führen.
Was denkt er denn da? Sollte er sich nicht hüten, sich so etwas vorzustellen? Vielleicht bekommt sie es mit, vielleicht kann sie längst seine geheimsten Gedanken lesen. Er blickt weiter heimlich zu ihr herüber, ach was, es wäre doch richtig, wenn sie seine Gedanken läse, nichts lieber als das, nichts lieber als eine Mitteilung darüber, was er sich wünscht und begehrt. Also weiter, er studiert sie jetzt weiter, und es kommt ihm so vor, als würde er sie entkleiden. Ihre Schultern – was ist mit ihren Schultern? Sie sind sehr kräftig, sie ist eine hervorragende Schwimmerin,
dieser Sport hat ihre Schultern geformt und gerundet. Die Arme sind ungewöhnlich lang, vielleicht ist auch das eine Folge des vielen Schwimmens, ihr Busen sitzt hoch und wirkt wie modelliert, manchmal kommt es ihm so vor, als trüge sie keinen BH, er ist sich in dieser Hinsicht aber nicht sicher. Die Hüften jedenfalls sind nicht besonders schmal, im Gegenteil, sie wirken …, ja, wie soll er das nennen? … – sie wirken stabil, wie ein Fundament, auf dem der Oberkörper wie ein Bau aufsitzt. Sie hat etwas von der Schönheit mancher Schauspielerinnen, die sich erst ganz erschließt, wenn man sie auf der Bühne, in Aktion, sieht und mit offenem Mund schließlich jede ihrer Gesten und Bewegungen verfolgt.
Im Grunde geht er nur ins Theater, um so etwas zu sehen: Frauen und Männer, die sich so bewegen und zeigen, dass man während einer Aufführung mit den Geheimnissen ganz einzigartiger Schönheiten vertraut wird. Oft schon hat er während einer ganzen Aufführung nur eine einzige Person verfolgt, ohne seine Aufmerksamkeit auf das gesamte Ensemble zu verteilen. Er hat diese Person fixiert, und er hat sie auch dann ununterbrochen betrachtet, wenn sie am Rand einer Szene saß oder ganz im Trubel des Spiels unterzugehen drohte.
Der »Trubel des Spiels« dagegen, das Aufschreien, laut deklamierende Chöre – so etwas zu erleben, ist ihm geradezu physisch unangenehm. Wenn eine Aufführung nur aus einem derartigen Taumel besteht, verlässt er sie in der Pause, wie er überhaupt dazu neigt, sich in der Pause auf und davon zu machen. Er mag keine Pausen, nicht im
Theater und erst recht nicht in einem Konzert. Er hasst das Herumflanieren der Konzertbesucher, staksig, müde, mit einem winzigen Sektglas in der Hand. Und er hasst es, wenn diese Besucher den Konzertsaal wieder umständlich und laut betreten, um sich in ihre engen Plätze zu zwängen und den letzten, starken Müdigkeitsschub abzubekommen.
Auch ihre Beine sind recht lang und sehr schlank, sie bewegt sich mit ihnen oft außergewöhnlich schnell, so dass ihr Körper aus zwei verschiedenen Teilen zu bestehen scheint: Dem kräftigeren, langsameren Oberbau und dem leichteren, schnelleren Unterbau. Er kann sich gut vorstellen,
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