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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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dass sie gern Fahrrad fährt, seltsam, er hat ein gewisses Faible für Frauen, die gerne Fahrrad fahren, »mit Frauen, die gerne Fahrrad fahren, liegt man nie falsch«, hat er einmal in einem Anfall von Übermut zu einem Freund gesagt, der den Satz nicht verstand und ihn daraufhin anschaute, als hätte er etwas vollkommen Irres gesagt. Doch was ist an diesem klaren Satz denn so seltsam? Frauen, die gerne Fahrrad fahren, sind praktisch und gehen direkt auf etwas zu, außerdem besitzen sie meist eine gewisse Leichtigkeit und einen gewissen Humor, er hat diese Vermutungen schon oft getestet, und sie haben sich fast immer bestätigt.

    Er glaubt auch fest, dass sie häufiger Kleider als Hosen trägt, sie trägt lange, bunte Kleider mit lebhaften Mustern, die während des Fahrradfahrens leicht nach hinten wehen, wie kleine Schmetterlingsflügel. Schmetterlingshaft – ja, so wirkt sie auch manchmal, dieses Schmetterlingshafte
verleiht ihr etwas Lebendiges, Rasches. Bestimmt geht sie erst spät in der Nacht zu Bett, nach Mitternacht, gegen eins, und bestimmt steht sie am Morgen früh auf, spätestens gegen sieben. Sie schläft also höchstens sechs Stunden, vielleicht auch noch weniger, das Schlafen bedeutet ihr nichts, sie ist viel zu neugierig, um länger als fünf, sechs Stunden zu schlafen …

    Nun aber genug. Er schaut auf die Uhr und erkennt, dass es Zeit ist, in die Buchhandlung zu gehen, um mit Katharina zu dem verabredeten Spaziergang aufzubrechen. Er wird sich vorher noch umziehen, und dann werden sie durch das weite, unterhalb der Bibliothek liegende grüne Tal ziehen, auf der schmalen, hellgrauen Straße entlang, die keinen Mittelstreifen hat.

    Er steht auf und trägt die leere Tasse zurück zu dem Tisch in der Mitte der Bibliothek. Als er dort angekommen ist, steht sie plötzlich ebenfalls auf und geht hinüber zu dem Stuhl, in dem er gesessen hat. Er hat seine Lektüre noch dort liegenlassen, sie nimmt das Buch und tauscht es gegen ihres, dann geht sie zurück und setzt sich wieder in ihren Lesestuhl. Sie beginnt sofort zu lesen, sie liest jetzt das Tagebuch des japanischen Dichters während seiner langen Wanderung durch den japanischen Norden.

    Ich werde mich jetzt in diesen Dichter verwandeln, denkt er, ich werde eine kleine Wanderung durch die grünen Täler dieser Ebene antreten. Sie wird hier oben in der ruhigen, schönen Bibliothek sitzen und Katharina und mich
beobachten, wie wir uns auf den Weg machen und die Ebene durchstreifen. Hier und da werden wir stehen bleiben und eine Station einlegen, ganz so wie der japanische Dichter.

    Er nimmt das Buch in die Hand, das sie ihm hingelegt hat, er schaut nicht auf den Umschlag. Dann verlässt er die Bibliothek und geht zurück zu seinem Zimmer.

22
    SIE LEGT das Buch aus den Händen und trinkt noch etwas Tee. Sie schaut hinab auf die grüne, einladende Ebene mit den Wellenkämmen aus Gras, den kleinen Scheunen und den Unterständen für das Vieh. Die graue Wegspur zieht durch dieses helle Grün ein schlichtes Band, auf das gerade Katharina und der Geliebte einbiegen. Sie gehen dicht nebeneinander und unterhalten sich, Katharina trägt einen kleinen, schwarzen Rucksack, und auch Johannes trägt einen Rucksack, dunkelgrün, breit und ausgebeult, vielleicht ein Jagdrucksack.

    Sie ist von diesem Anblick nicht überrascht, sie hat das beinahe schon erwartet, denn ihr beiderseitiger Kontakt setzt sich seit dem ersten Moment der Begegnung ununterbrochen in immer anderen und neuen Räumen fort, als gälte es, das gesamte Terrain dieses Hotels und seine unmittelbare Umgebung in ihren Liebesrausch mit einzubeziehen.
Anscheinend wollen Katharina und Johannes nicht im Hotel zu Mittag essen und wandern jetzt hinüber zum Biergarten des nah gelegenen Gasthofs und zu der kleinen Kapelle, die sich hinter dem Biergarten mitten in einem schönen Wiesengelände befindet.

    Sie wird noch etwas in dem Buch des japanischen Wander-Dichters lesen und dann weiter an ihrem Projekt arbeiten. Was wären die nächsten Bilder und Szenen, die sie einfangen könnte? Sie wird sich von ihren Lektüren inspirieren lassen und sich umschauen, ja, sie wird wie bisher nichts erzwingen, sondern jede Sequenz der plötzlichen Eingebung und dem Zufall überlassen. Längst denkt sie dabei nicht mehr nur an sich selbst und an ihre eigenen Auftritte, sie bezieht ihn mit ein, so dass sie sich laufend bestimmte Begegnungen vorstellt: Sie wartet an einem stillen Ort, und er kommt ihr entgegen; sie geht

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