Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
Vom Netzwerk:
und keine Zukunft gefunden, deshalb werden sie allmählich unruhig und drängen sich in Deine Projekte und Träume. Du solltest sie nicht mehr länger warten lassen, Du solltest Dich um sie kümmern.
    – Kümmern? Aber wie sollte ich das machen? Was stellst Du Dir denn vor?
    – Du solltest die Hinterlassenschaft Deiner Eltern in der großen Scheune neu gruppieren, Du solltest sie aufbauen wie eine Wohn-Landschaft. Bei jedem Ding, das Du in die Hand nimmst, solltest Du Dir überlegen, wohin es gehört. Du solltest eine Skizze oder einen Plan entwerfen, der den Aufbau und die Gruppierung der Dinge im Scheunenraum festhält, Du solltest Dir genaue Gedanken machen, wie Du die Dinge anordnest. Und dann solltest Du darangehen, jedem Ding eine Nummer zu geben und es genau zu beschreiben.
    – Halt, Katharina, nicht so schnell. Langsamer und noch einmal von vorn, ich möchte mir das Ganze genau vorstellen können.
    – Gut, noch einmal und langsamer. Als Erstes zeichnest Du einen Grundriss der leeren Scheune. Und dann überlegst Du, wo Du in dieser Scheune jedes einzelne Ding deponierst. Wo gehört es denn genau hin, in die Nachbarschaft welches anderen Dings? Wenn Du darüber nachdenkst, wirst Du die Dinge in Gruppen anordnen. Und diese Gruppen werden schließlich kleine Ensembles bilden, und diese kleinen Ensembles werden zu Landschaften wachsen. Am Ende wirst Du eine große Fantasie- oder Traumlandschaft Deiner Vergangenheit entworfen haben. Die Gegenstände werden nicht weiter nutzlos, aussortiert
und tot herumstehen, sondern sie werden wieder zu Dir gehören. Das wird sie besänftigen und beruhigen, und das wird vor allem Dich beruhigen, und zwar so, dass Du in Zukunft sogar mit diesen Fantasien und Träumen arbeiten kannst. Die Dinge werden Dir also nicht mehr im Wege stehen, sie werden sich Dir vielmehr anbieten, sie werden sich ihre Plätze in Deinen Texten ganz von selbst suchen. So stelle ich mir das vor.

    Der Kellner erscheint an ihrem Tisch und serviert zwei Martini. Johannes greift nach seinem Glas und schaut einen Moment etwas verdutzt auf die glasklare, eisige Flüssigkeit, die etwas Konzentriertes, Kompaktes, ja beinahe Strahlendes hat. Dann stoßen sie beide an und trinken einen Schluck. Er spürt, wie das kalte Getränk in seinen Körper fährt, streng, blitzartig, ein leicht metallener Nachgeschmack liegt danach auf seiner Zunge.
    – Machen wir doch einfach ein paar kleine Experimente, sagt Katharina. Vielleicht verstehst Du dann besser, wie ich mir das Ganze vorstelle. Machst Du mit?
    – Du fragst noch? Natürlich mache ich mit. Leg los.
    – Also gut. Stell Dir vor, Du stehst jetzt vor der Scheune, Du öffnest sie und gehst langsam hinein in das Dunkel. Du hast eine exakte Aufgabe: Du sollst einen Gegenstand suchen, der Dir lieb und teuer ist und den Du als Kind oft in der Hand gehabt hast. Du sehnst Dich nach diesem Gegenstand zurück, Du hast viele gute Stunden mit ihm erlebt. Welchen Gegenstand würdest Du aus der Scheune holen?
    – Das ist ganz einfach, ich würde meine Kinderklarinette suchen.

    – Die Kinderklarinette, na bitte. Warum die Kinderklarinette?
    – Ich habe als Kind zuerst Blockflöte gespielt. Mit neun, zehn Jahren fand ich aber Blockflötenspielen nicht mehr gut, nein, ich fand es sogar unerträglich. Blockflöte war damals in meinen Augen ein Instrument für unmusikalische Kleinkinder, die von ihren noch unmusikalischeren Eltern gezwungen wurden, schreckliche Töne von sich zu geben. Ich wollte aber mit dem Musikmachen nicht aufhören, sondern suchte nur etwas Ernsteres. Da entdeckte mein Vater die Kinderklarinette, die noch immer ein wenig nach Blockflöte aussah, aber ein anderes Mundstück hatte. Außerdem klang sie perfekt: erwachsen, ernst und doch munter und durchaus auch ein wenig skurril.
    – Sehr schön. Du erzählst mir da gerade eine sehr schöne Geschichte. Und diese sehr schöne Geschichte solltest Du als Nächstes aufschreiben. Es ist die Geschichte Deiner Klarinette, und es ist die Geschichte, wie Du als Kind die ernste Musik entdeckt hast. Also legst Du eine Karte oder ein Heft an, Du gibst Deiner Kinderklarinette eine Nummer und beschreibst sie: Aussehen, Größe, Firma, alle Details. Und zu dieser Beschreibung fügst Du dann Deine Geschichte hinzu. Noch ein Experiment?
    – Ja, gern.
    – Noch ein Experiment. Du stehst wieder vor der Scheune, Du öffnest sie und gehst jetzt hinein in das Dunkel. Du suchst einen ganz bestimmten Duft, einen Duft, den Du

Weitere Kostenlose Bücher