Liebesnaehe
Elternhaus kaum noch betreten, er hat vielmehr die Flucht angetreten, weil er es nicht ertrug, in den bekannten und vertrauten Räumen zu sitzen und durch jeden Gegenstand an die Mutter und die Eltern erinnert zu werden. Schließlich ist er aber doch wieder in sein Elternhaus zurückgekehrt. Und was hat er gemacht? Was stellst Du Dir vor, dass er gemacht hat?
Katharina richtet sich auf und schaut zu Jule hinüber.
– Er hat das Haus leer geräumt, antwortet Jule.
– Wie kommst Du denn darauf?
– Wenn ich in der Situation dieses Gastes wäre, dann würde ich das Haus leer räumen. Es gibt keine andere Lösung für das Problem.
– Richtig, er hat das Haus wahrhaftig leer geräumt.
– Und was hat er mit all den Sachen seiner Eltern gemacht? Er hat sie doch nicht etwa verkauft?
– Nein, er hat sie in einem Lager deponiert. Und dann hat er sein Elternhaus renoviert und neu eingerichtet.
– Sehr gut. Genauso hätte ich es wohl auch gemacht. Er hat sich von der Last der Dinge befreit, und er hat dem
Elternhaus eine neue Gestalt gegeben. Wenn das alles aber so glücklich verlaufen ist, warum braucht er dann einen Rat oder sogar Hilfe?
– Es ist alles glücklich verlaufen, aber er wird die Erinnerung an die alten Dinge nicht los. Sie verfolgen ihn bis in seinen Alltag und bis in seine Träume, sie sind immer noch gegenwärtig. Er kann sogar seiner Arbeit nicht richtig nachgehen, weil sich die Dinge selbst noch in seine Arbeit einmischen.
– Was hat er denn für einen Beruf?
– Er ist … Bühnenbildner.
– Bühnenbildner? Im Ernst?
– Ja, er ist Bühnenbildner. Jedes Mal, wenn er sich an einen neuen Entwurf macht, fühlt er sich durch die Erinnerungen an das alte Haus und die alten Gegenstände blockiert. Das Haus und die Gegenstände – sie wollen auftreten, verstehst Du, sie wollen Rollen übernehmen, sie lassen sich nicht verdrängen oder vergessen.
– Oh mein Gott, ich verstehe, jetzt verstehe ich, um was es geht. Der Mann hat eine Art von Blockade, ja, so könnte man es wirklich nennen.
– Eine Art von Blockade, ja, so denke ich auch. Aber wie könnte man ihm helfen? Weißt Du einen Rat?
– Da muss ich eine Weile nachdenken, Katharina. Komm, gehen wir wieder hinüber in die große Halle, mir ist es hier jetzt zu warm.
Sie stehen beide wieder auf und übergießen sich mit kaltem Wasser. Dann reiben sie sich mit frischen Badelaken trocken, wickeln sich wieder in die blauen Leinentücher und gehen in die Säulenhalle zurück. Auf dem Weg dorthin
trinken sie noch einmal von dem kalten Wasser, das weiter in das kreisrunde Becken des Brunnens schießt.
Sie strecken sich auf zwei bequemen Liegen aus, Jule schließt die Augen, während Katharina stumm vor sich hin starrt. Nach einer Weile setzt Jule die Unterhaltung fort:
– Mir geht da gerade noch etwas anderes durch den Kopf, Katharina.
– Und was?
– Ich dachte gerade an mein eigenes Archiv, und ich dachte daran, dass mir etwas Ähnliches ja auch hätte passieren können. Viele Dinge, die sich in diesem Archiv befinden, erinnern mich stark an Georg, ja das ganze Projekt erinnert natürlich an ihn. Und trotzdem hat mich dieses Projekt nicht beengt oder mir sonst zugesetzt. Und ich glaube, ich weiß auch, woran das liegt.
– Und woran liegt es?
– Ich habe die Dinge nicht irgendwo abgestellt, sondern ich habe ganz bewusst mit ihnen gearbeitet. Ich habe einen Katalog angelegt, jedem Ding eine Nummer gegeben, und jedes Ding kurz beschrieben. Viele von diesen Dingen habe ich in meine Arbeiten integriert, ich habe sie ausgestellt oder sonst etwas mit ihnen angefangen. Deshalb sind sie nicht zu einer toten, bedrohlichen Materie geworden, sondern zu einem Teil meines Lebens.
– Und das bedeutet?
– Man könnte meine Erfahrungen mit dem Archiv so nutzen, dass man daraus etwas folgert, ja, man könnte aus meinen Erfahrungen nämlich folgern, dass der Hotelgast sich bewusst mit seinem Archiv beschäftigen sollte.
Er sollte ihm nicht aus dem Weg gehen, sondern er sollte, genau anders herum, Kraft und Zeit in das Archiv investieren.
– Du meinst, er sollte einen Katalog anlegen, so wie Du es gemacht hast?
– Ja, zum Beispiel, warum nicht? Vielleicht sollte er die Objekte auch zeichnen, Objekt für Objekt, schließlich ist er Bühnenbildner, da fallen ihm solche Zeichnungen leicht und machen ihm vielleicht sogar Vergnügen. Wenn er die Dinge zeichnet, nimmt er Verbindung mit ihnen auf. Sie werden zu Spielformen, sie werden zu Dingen,
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