Liebesnöter
Schokoladengeschäft aufgefallen war: Sie wurde zwar sehr freundlich begrüßt, aber überhaupt nicht bedrängt. Die Schweden schienen alle Zeit der Welt zu haben. War der Norden insgesamt gelassener als der Süden? Sie schaute sich erst kurz um, dann suchte sie den Rat einer hübschen blonden Frau, die völlig relaxed an einem Stehtisch stand und etwas in ein Kassenbuch schrieb.
Ella nannte den Namen der Galerie, die sie suchte, und erntete ein Lächeln. Auch ungewöhnlich, dachte sie, wenn man doch so offensichtlich zur Konkurrenz will.
»Do you have a map?«, wollte die Blonde wissen, und Ella zog ihren Stadtplan heraus. Daraufhin nahm die Galeristin einen Filzstift und malte einen Kringel mitten in die Altstadt.
»Here you will find it.« Sie lächelte gewinnend.
Kein Wunder, dass viele Männer schwedische Frauen so erotisch finden, dachte Ella. Diese strahlenden blauen Augen, diese intensive Zuwendung, dieses Eingehen auf eine fremde Person – wo fand man denn so etwas in Deutschland?
Ella bedankte sich vielmals und versuchte im Gewirr der kleinen Straßen und seltsamen Straßennamen die richtige Ecke zu finden. Zweimal lief sie an der Deutschen Kirche vorbei. Irgendwie war sie im Kreis unterwegs, stellte sie fest und schaute auf die Uhr. Schon später, als sie gedacht hatte. Und der Himmel machte jetzt endgültig zu, die Sonne war weg, und es wurde regelrecht düster. Die ersten Regentropfen trieben die Passanten in die Cafés, und weil Ella zu spät reagierte, fand sie keinen Platz mehr. Und sich unter eine der Markisen zu stellen war ihr dann doch zu trostlos. Der Regen platschte regelrecht auf das Pflaster, und Ellas Sneakers fühlten sich schnell unangenehm feucht an. Sie schaute sich um. Hinter ihr ragte der spitze grüne Turm der Deutschen Kirche in die Luft. Warum nicht? Ein bisschen Kultur konnte nicht schaden, und außerdem erinnerte sie die ganze Kirche irgendwie an Schloss Hogwarts aus Harry Potter . Sie machte kehrt und lief die schmale Gasse hoch, die sie gerade erst herunter gekommen war. »Fürchtet Gott! Ehret den König!« stand auf dem schmiedeeisernen Tor zu lesen, das zur Kirche führte. Im Moment fürchtete sie eher die kalte Nässe, die ihr in den Kragen lief. Aber kaum war sie in der Kirche, blieb sie fasziniert stehen. Das große Kirchenschiff war an sich schon beeindruckend, aber der Altar, die Glasfenster, die Galerie mit der Orgel und dann auch noch dieser zweistöckige Kasten aus Gold, groß und gewichtig und geheimnisvoll mit den vielen Fenstern, die aber keine Einblicke boten, das alles war überwältigend. Ella trat näher. Es musste die Königsloge sein. Hier saßen sie also, die gekrönten Häupter, erhaben über die Menschheit und näher bei Gott. War das so? Es reizte sie, die Treppe hinaufzusteigen. Was hatte diese Loge zu erzählen? Was war dort während der Gottesdienste passiert? Sie dachte an Roger. Alles war möglich. Sie versuchte sich die Bilder aus jener Zeit vorzustellen. Die Fenster der Loge gingen direkt zur Kanzel. Dort oben wurde also gepredigt. Von Enthaltsamkeit und frommem Wirken, wie Ella vermutete. Wie schade, dass man die Zeit nicht zurückdrehen konnte. Und nicht hineinhorchen konnte, irgendwo in diesen Mauern waren das Lachen, das Beten, das Glück und der Tod doch sicherlich gespeichert.
Sie setzte sich auf eine der Bänke und betrachtete die schwarze Kanzel mit ihren Schnitzereien. War sie aus Ebenholz? Und das prunkvolle Gold der Loge. Die Figuren, Kronen und Verzierungen. Wozu die Menschen früher doch fähig waren. Dieses akribisch Kunstvolle erschlug sie fast. Und wie immer, wenn sie vor solchen Meisterwerken stand, hätte sie gern die Menschen erlebt, die das alles gefertigt hatten, ihre Werkstätten, ihr Werkzeug, ihre Hände gesehen – und die Bedingungen, unter denen sie gelebt und gearbeitet hatten. Die kunstvollen Glasfenster und Gemälde um sie herum erinnerten sie an die Galerie, wegen der sie eigentlich gekommen war. Und plötzlich hatte sie Moritz wieder so genau vor Augen, dass es sie fröstelte. Sie drehte sich um. Schräg hinter ihr saßen zwei Männer, die leise miteinander redeten. Aber das kann es nicht gewesen sein. Wo kam dieser Impuls her, der sie wie ein Stromschlag durchzuckte?
Ella stand auf und suchte die Ecke mit den Kerzen. Sie nahm eine und zündete sie an. »Für dich, Inka«, sagte sie leise und spürte, wie ihre Augen feucht wurden.
Sie war hier, in einem fremden Land, um den Mörder ihrer Schwester zu finden.
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