Liebesnöter
langsam, bedächtig, wie sie überhaupt alles mit großem Bedacht tat.
»Das meine ich nicht. Ich meine das, was sich hinter dieser Stirn verbirgt, was arbeitet, was sich bewegt.«
»Haben Sie sich schon einmal selbst porträtiert?«
Ella sah das Bild gut vor sich, diese Augen, dieser Mund, dieser seitliche Blick zu Moritz.
»Ja, aber es ist schwierig. Man hat zu sich selbst ein anderes Verhältnis. Sieht sich anders, als andere das tun, und empfindet sich anders.«
»Und dieser Mann, den meine Freundin in Ihrer Ausstellung gesehen hat, wer ist er?« Wenn er schon nicht unser Schulkamerad sein soll, hätte Ella gern angefügt, aber sie verkniff es sich.
Inger nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Glas, dann fuhr sie sich mit fünf gespreizten Fingern durch ihr schweres kastanienbraunes Haar.
»Er ist mein Gespenst«, sagte sie schließlich leise.
Ella hielt kurz die Luft an.
»Und wer ist er?« Und sie hörte selbst, dass ihre Stimme anders klang, gepresst, angstvoll und in ihren eigenen Ohren fremd.
Inger gab sich einen Ruck, setzte sich gerade hin, und augenblicklich war die Stimmung eine andere. Jetzt war sie wieder die Starke, die Frau mit der faszinierenden Ausstrahlung, die anderen ein Gesicht gab.
»Er ist Vergangenheit, und wir befinden uns in der Gegenwart. So, jetzt lassen Sie uns an die Staffelei gehen, die Vögel und Blüten und Girlanden warten auf uns.«
Zwei Stunden später fuhr Ella zurück in die Stadt. Sie hatte es nicht herausgefunden, und sie hatte sich, nachdem sie ihre beiden Weingläser mit ins Atelier genommen und Inger schwungvoll nach dem Pinsel gegriffen hatte, auch nicht mehr getraut, nach diesem Mann zu fragen. Sie konnte Inger ja nicht ihr eigenes Portrait zeigen, sie bräuchte ein Foto von damals, aus ihrer Schulzeit. Vielleicht hatte Inger Moritz unter einem anderen Namen kennengelernt? Das war gut möglich. Alles war möglich, und mit jeder Stunde, so hatte sie das Gefühl, gab es mehr Möglichkeiten.
Der Kapitän nickte ihr freundlich zu, suchte aber kein Gespräch, und Ella setzte sich nach unten, weil der Wind ordentlich aufgefrischt hatte und durch ihre Jacke zog. Sie sollte sich einen Strickpullover mit eingebautem Windstopper kaufen, dachte sie, während sie die Arme schützend vor ihrer Brust verschränkte. Sie streckte die Beine aus und betrachtete den Bullerofen vor sich. Ab welcher Temperatur heizte der Kapitän wohl ein? Und ob die Schären im Winter so ohne Weiteres zu befahren waren? Wie aber kamen die Inselbewohner ohne Fährverkehr zu ihren Nahrungsmitteln, ihrer Post und dem anderen täglichen Kram? Sie hätte Lust gehabt, den Kapitän danach zu fragen, aber dann ließ sie es doch. Möglicherweise hätte er daraus geschlossen, dass sie im Winter auch noch hin und her fahren würde. Noch lieber hätte sie ihn gefragt, ob man mit so einer Fähre seinen Lebensunterhalt verdienen konnte. Sie war schon wieder die einzige Passagierin.
Als sie am Bahnhof ausstieg, fror sie wirklich. Nicht weit von ihrem Hotel entfernt hatte sie eine Einkaufsstraße mit einigen großen Läden entdeckt. Das wäre jetzt die Gelegenheit, sich das richtige Schweden-Outfit zu kaufen. Im selben Augenblick fielen ihr die zweitausend Euro für das Blumengemälde ein, für das sie eigentlich keine Verwendung hatte. Sie würde es in der Frankfurter Galerie einfach für dreitausend Euro weiterverkaufen. Der Gedanke heiterte sie etwas auf, wenn es ihr auch nicht sehr realistisch schien.
Komisch, wieso nur hatte sie zur Zeit solche Stimmungsschwankungen? Mal rauf, mal runter, sie kannte sich selbst nicht mehr. War sie vielleicht schwanger? Der Gedanke verursachte ihr weiche Knie. Aber das konnte nicht sein. Sie nahm die Pille, da müsste schon etwas dramatisch schieflaufen. Obwohl, gehört hatte sie von solchen Fällen schon.
Ihr Hotel kam in Sichtweite, Ella beschleunigte ihren Schritt. Es wurde immer dunkler, dichte Wolken kamen wie eine Wand auf sie zu. Sie flüchtete in den Hoteleingang, und gleich darauf prasselte ein sintflutartiger Regen nieder.
»Hej, da hast du ja richtig Glück gehabt!« Siri winkte ihr von der Rezeption aus zu.
Ella winkte ebenfalls und drehte sich um. Draußen war es jetzt wirklich Nacht geworden, und der Regen peitschte in Böen die Straße entlang und prasselte gegen die großen Fenster. Einige Passanten retteten sich ins Hotel, und Ella ging zu Siri.
»Hej, lange nicht gesehen.« Siri hatte ihre blonde Haarpracht zu einem strammen Pferdeschwanz gebunden und
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