Liebesnöter
blieb Ella stehen. Ob Anna sie wiedererkennen würde? Im Moment waren einige Leute in der Galerie, Ella sah durch die Scheibe, wie ein eng umschlungenes Paar von einem Bild zum anderen schlenderte. Und drei Frauen fachsimpelten vor einem mannshohen Gemälde, das nach Ellas Kunstverstand nur aus roten, grünen und blauen Strichen bestand. Sie schaute eine Weile von der anderen Straßenseite aus zu, dann schweiften ihre Gedanken ab.
Inka, dachte sie. Inka, wenn du jetzt irgendwie bei mir bist, dann gibt mir einen Anhaltspunkt, zeig mir einen Weg zu Moritz. Im Moment weiß ich nicht mehr weiter. Hat Inger ihn gekannt oder nur durch Zufall fotografiert? Oder war er bei ihr und ist tot? Über die Felsen ins Wasser … Welche Ironie des Schicksals.
Oder denke ich zu kompliziert? Baue ich Umwege, wo ich geradeaus könnte? Hätte ich Inger ganz einfach nach Moritz fragen können? Der Gedanke ließ Ella nicht los.
Kurz entschlossen nahm sie ihr Smartphone und rief Inger an. Sie musste es lange läuten lassen, bis jemand abnahm.
»Med Inger.«
»Hier ist Ella. Ich war gestern bei Ihnen.«
»Ja, ich weiß, wer Sie sind.« Kurze Pause. Dann mit einem verhaltenen Lachen in der Stimme: »Ihr Bild ist noch nicht fertig.«
Ella lachte auch. Und legte los: »Heute Morgen hat mich eine ehemalige Schulfreundin angerufen, die nun in Frankfurt wohnt. Sie ist sehr kunstinteressiert und war bei einer Ausstellung, und sie schwärmte mir vor.« Sie hielt kurz inne. »Von Ihnen!«
Inger lachte nun wirklich. »Ja«, sagte sie, »das soll es geben.«
»Aber so ein Zufall!«
»Es gibt keine Zufälle.«
»Ein Bild hat sie besonders elektrisiert, ein Portrait.«
Ingers Stimme klang eine Nuance dunkler. »Es hängen einige Portraits dort.«
»Das Portrait eines gemeinsamen Klassenkameraden. Sein Name ist Moritz. Moritz Springer.«
Es war kurz still.
»Moritz Springer? Das sagt mir nichts.«
»Komisch.«
»Sie muss sich wohl getäuscht haben. Ich habe keinen Moritz gemalt.«
Sollte sie ihr letztes As aus dem Ärmel schütteln und von dem Foto erzählen? Aber von dem Foto wusste Inger ja schon. Anna hatte das doch wohl vor ihren Augen in der Galerie mit Malin diskutiert und Malin anschließend mit Inger.
Es war vielleicht doch keine gute Idee gewesen, so mit der Tür ins Haus zu fallen.
»Gut«, lenkte sie ein und bemühte sich, einen heiteren Ton anzuschlagen, »unser Abitur ist ja auch schon länger her, und seitdem haben wir ihn nicht mehr gesehen. Da hat sie wahrscheinlich was verwechselt.«
»Wahrscheinlich hat sie das.«
Ella überlegte, was sie nun sagen könnte.
»Aber wenn Sie beim Entstehen Ihres Bildes zuschauen wollen, können Sie gern auf eine Tasse Tee vorbeikommen.«
Ella traute ihren Ohren nicht.
»Ist das Ihr Ernst?«
»Natürlich ist es mein Ernst.«
»Und was kann ich mitbringen?«
»Vielleicht eine Flasche Rotwein?«
Ella steckte ihr Smartphone ein und sah sich um. Rotwein. Den bekam man hier doch nur in besonderen Läden. Aber das würde sie auch noch hinkriegen. Kaum zu glauben, dachte sie, jetzt musste sie Steffi wirklich mal an die Strippe bekommen. Skypen, heute Abend, das wäre eine Option. Mittagszeit in New York, das müsste passen. Steffi, dachte sie, das wäre mega, wenn du jetzt hier wärst. Wir beide zusammen würden das Kind schon schaukeln.
Sie schickte ihr schnell eine SMS . »Vermiss dich!«
»Miss you too«, kam zurück. Anscheinend war sie schon voll amerikanisiert.
»Vielleicht bin ich Moritz schon ganz nah.« Ella hatte es schon getippt, als ihr Steffis letzte Mail einfiel, ihr Satz, man solle Gespenster ruhen lassen. Sie wollte sie nicht ängstigen und löschte den Satz. Inka, dachte sie dabei, warst du das? Die Zeile war so spontan aus ihr herausgeflossen, so ohne eigenes Zutun, dass es ihr selbst unheimlich wurde.
Es ist helllichter Tag, sagte sie sich, du stehst in einer gewöhnlichen Altstadtgasse in Stockholm, um dich herum sind Menschen, du bist du, und du isst jetzt keine Salami, nur weil Inka sie mag.
Bei diesem Gedanken lief sie los. Vielleicht werde ich langsam verrückt, dachte sie, während sie den Weg zur U-Bahn einschlug. Vielleicht fängt so was ja mit vierunddreißig an, eine besondere Form von Schizophrenie, eine Zwillingsschizophrenie?
Ella kannte sich mit Rotwein nicht besonders gut aus, deshalb orientierte sie sich am Preis. Der war sowieso schon recht hoch, also kaufte sie eine Flasche für hundertfünfzig Kronen. Fünfzehn Euro, dachte sie, aber dafür
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