Liebesnöter
Inger ging voraus ins Wohnzimmer und zeigte auf den Tisch. Zwei Rotweingläser standen da, ein Korkenzieher lag griffbereit, und verschiedene Backwaren in einem Korb deuteten an, dass sich Inger auf eine längere Besuchszeit eingerichtet hatte. Ella wurde immer mulmiger. Im Notfall wusste wenigstens der Fährmann, wo sie abgeblieben war. Aber ob der Fremden gegenüber jemals etwas sagen würde?
»Setzen Sie sich doch!«
Ella setzte sich und sah zu, wie Inger mit wenigen geschickten Handgriffen die Flasche entkorkte. Sie schenkte ein und ließ sich ihr gegenüber nieder.
»Dieser Platz inspiriert mich täglich aufs Neue«, sagte sie. Ja, stimmt, Ella musste zugeben, dass die Aussicht über das Wasser und die kleinen Inseln spektakulär war. Vor allem aus dieser Höhe. Sie hatte den Eindruck, auf gleicher Höhe mit dem Himmel zu sein, der heute ein filmreifes Wolkenspiel lieferte. In drei Schichten bewegten sich die Wolken auf sie zu, oben die langsam dahinziehenden, fast dunkelgrauen Wolken, darunter schnellere, helle Wölkchen und schließlich die Schleierwolken, die sich auffächerten und so tief daherkamen, als wollten sie die Baumspitzen einhüllen.
»Ein bisschen gespenstisch«, sagte Ella.
»O ja, es gibt gespenstische Tage und Nächte hier«, Inger hob das Glas, »aber dieser gehört definitiv nicht dazu.«
Sie stießen an, und Ella dachte, dass sie sich das noch vor wenigen Tagen nicht hätte träumen lassen. Hier saß sie mit Inger Larsson an einem Tisch, in ihrem Haus, mitten in Schweden.
»Und welche Gespenster bewegen Sie?«
Inger hatte ihre samtblauen Augen auf sie gerichtet, und Ella spürte, wie sie sich mit all ihren Gedanken auf sie konzentrierte.
»Meine Gespenster?«, wiederholte sie langsam und senkte den Blick. Ja, in ihrer Vergangenheit gab es Gespenster.
»Meine Zwillingsschwester ist mein Gespenst«, hörte sie sich sagen. »Sie ist während unserer Abifeier ertrunken. Seitdem begleitet sie mich. Manchmal mehr, manchmal weniger. Zeitweise gar nicht. Aber dann weiß ich plötzlich nicht mehr, ob ich sie bin oder sie ich.« Sie stockte und musterte die gehäkelte Decke vor sich. Irgendwie schien sich ihr Gehirn mit dem komplizierten Häkelmuster ablenken zu wollen. Zwei rechts, zwei links und wie dann weiter?
Es war still.
Schließlich sah sie auf.
»Ja, das Leben kann unberechenbar sein.« Inger wandte den Kopf und schaute aus dem Fenster hinaus in die Weite.
»Aber Sie hier«, Ella hob beide Hände, »Sie haben doch die Idylle pur. Sie brauchen ja nichts an sich heranzulassen, das Ihnen irgendwie zusetzt.«
»Sie können die Dinge nicht kontrollieren. Wenn man jung ist, glaubt man das. Später weiß man, dass man sich mit dem Leben arrangieren muss. Keiner konnte es je bezwingen.«
Inger drehte sich zu ihr zurück.
»Sie haben Ihre Zwillingsschwester verloren. Ich habe einen geliebten Menschen verloren. Beide sind ertrunken.« Sie schob ihr Glas in die andere Hand und sah Ella in die Augen. »Haben Sie Angst vor Wasser?«
Ella zuckte zusammen. Komisch, dachte sie, weshalb erschreckte sie die Frage?
»Nein, eigentlich nicht.« Sie dachte nach. Nein, vor Wasser hatte sie sich nie gefürchtet.
»Dann ist Ihre Schwester in einem glücklichen Moment gestorben?«
»Kann man glücklich sterben, wenn man so jung ist?«
»Vielleicht war der Moment glücklich?«
Ella dachte an Moritz. Hatte Inka ihn geliebt? Sie hatte ihn gemocht, das wusste sie. Aber viele andere Mädchen hatten ihn auch gemocht. War da mehr, als ihre Schwester ihr je eingestanden hatte?
»Sie ist unter Wasser gedrückt worden, die Male am Hals haben es bewiesen. Ich glaube nicht, dass sie dabei glücklich war.«
»Also Mord.«
Es war ein Wort, mit dem sie noch immer nicht umgehen konnte. Nicht in Bezug auf ihre Schwester.
»Und warum wollen Sie das alles so genau wissen? Ich dachte, ich schaue Ihnen beim Malen zu, und da ging es eigentlich um ein fröhliches Motiv.«
»Sie sprachen von einem Portrait. Und wenn ich Sie malen soll, muss ich wissen, woher dieser traurige Ausdruck in Ihren Augen kommt.«
»Meine Augen sind traurig?« Seltsamerweise fiel ihr sofort Roger ein. Der hatte nichts dergleichen gesagt.
»Vielleicht ist es das falsche Wort. Melancholisch. Oder auch nur ein bisschen verhangen.«
Inger musterte sie.
»Und Ihre Stirn zeigt, dass Sie schon viel nachgedacht haben.«
»Ich bin vierunddreißig Jahre alt, da hat man die ersten Linien.«
Inger schüttelte nur andeutungsweise den Kopf,
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