Liebesnöter
herauszog und die Mitteilung aufdrückte. Maxi hatte das Foto gut aufgenommen. Spiegelfrei und in optimaler Größe füllte es nun das Display aus. Moritz lächelte ihnen vergnügt entgegen, achtzehn Jahre alt, ein blutjunger, gut aussehender Bursche.
Inger erstarrte.
»Gib das her!« Sie riss Ella das Smartphone aus der Hand und betrachtete das Foto. »Wie soll der heißen? Moritz?«
»Ja. Moritz Springer.«
Inger hielt das Smartphone etwas von sich fort, dann ganz dicht vor die Augen. Schließlich reichte sie es Ella zurück. Ihr Gesicht war blass, die samtigblauen Augen stechend.
»Hat er etwas mit dem Tod deiner Zwillingsschwester zu tun?«
Ella hörte, wie Roger aufstand.
»Kennst du ihn?«, wollte Ella eindringlich wissen.
Inger schloss die Augen. Eine Weile war es still, nur die Zweige einer Kletterrose kratzten am Fenster. Ella sah aus dem Augenwinkel, wie Roger abwartend hinter seinem Stuhl stand.
»Er heißt Nils Andersson.« Noch immer hielt Inger ihre Augen geschlossen. »Und er ist vor drei Monaten verschwunden.«
Ella wurde es schwindelig. Sie stützte sich an der Anrichte ab.
»Als wir den Wein miteinander getrunken haben, da hast du mir erzählt, ein geliebter Mensch sei ertrunken.« Sie machte eine kurze Pause, um sich zu sammeln. »War er das?«
Inger wandte sich ab und ging zum Tisch hinüber. Vor Roger blieb sie stehen. »Das ist keine Sensationsgeschichte«, sagte sie in veränderter Tonlage zu ihm. »Das ist nichts als die bittere Wahrheit. Ein Mensch verschwindet. Wo ist er hin? Warum? Ist er ertrunken? Abgestürzt, über die Felsen gerutscht?«
Sie drehte sich zu Ella um.
»Und du? War das von Anfang an dein Ziel, deinen …«, sie hielt kurz inne, »… deinen Moritz hier zu finden? Kamst du deshalb mit dieser Servierplatte an?«
Ihr Ton war hart geworden, und einen Moment lang befürchtete Ella, sie könnte die Vase nehmen und nach ihr werfen.
»Das war Zufall«, beteuerte sie. »Das habe ich dir schon mal erklärt. Ich konnte das ja alles nicht wissen. Aber jetzt weiß ich auch, dass dein Selbstportrait in der Ausstellung neben dem von Moritz gehangen hat.«
Inger ließ sich auf den nächsten Stuhl sinken.
»Soll ich uns den Tee machen?«, fragte Roger und ging, ohne eine Zustimmung abzuwarten, zur Anrichte.
»Wenn es nicht auch um dich ginge, hätte ich euch vorhin rausgeschmissen«, begann Inger langsam, »denn mein Leben geht keinen etwas an.«
»Meins auch nicht«, sagte Ella.
»Eben!« Inger strich sich die schweren Haare aus dem Gesicht. Wie alt war sie? Schwer zu schätzen. Jedenfalls einige Jahre älter als sie und Moritz. Waren die beiden tatsächlich ein Liebespaar gewesen?
»Wir haben uns vor vier Jahren beim Mittsommerfest kennengelernt. Nicht weit von hier. Es war Liebe auf den ersten Blick. Wir haben uns gesehen und waren füreinander bestimmt.« Inger schwieg, und Ella sah, wie sehr sie um ihre Fassung rang. Sie legte die Hand auf ihre. »Anfangs sahen wir uns nur ab und zu. Es war leicht, Nils ist Bootsbauer und hat am Festland seine kleine Werft«, sie zeigte unbestimmt in eine Richtung, »er kam einfach mit dem Boot herüber.«
Ausgerechnet Bootsbauer, dachte Ella. Wie perfide konnte das Leben sein?
»Vor einem Jahr ist er dann hergezogen. Und ich habe gedacht, jetzt ist das Leben vollkommen!« Ella dachte an die Bilder von Moritz, seinen Körper, seine Ausstrahlung. Optisch waren sie sicherlich ein schönes Paar gewesen.
»Und dann war er plötzlich weg. Verschwunden. Kein Lebenszeichen von ihm, es gab ein gekentertes Boot, aber keiner wusste, ob er damit hinausgefahren war oder ob es sich im Sturm losgerissen hatte.«
Ein gekentertes Boot. Ella kroch es kalt den Rücken hinauf.
Inger verstummte und fuhr mit dem Zeigefinger eine Girlande auf der Blumenvase nach.
»Hast du dein gutes Deutsch von ihm?«, fragte sie.
Inger sah auf. »Er sagte, seine Mutter sei eine Deutsche gewesen, und mit ihr habe er von Anfang an nur Deutsch gesprochen. Aber sein Schwedisch war ebenfalls perfekt. Nie hätte ich vermutet, dass er überhaupt kein Schwede ist …«
»Ja«, sagte Ella, »das wundert mich nicht. Er war sehr sprachbegabt und hätte überhaupt ein glänzendes Abitur machen können, wenn er nicht so faul gewesen wäre. Er hatte einfach keine Lust zum Lernen.«
»Wer hat das schon.«
Roger stellte die drei Tassen auf den Tisch. »Tee à la Roger«, sagte er dazu. »Vielleicht nicht ganz so perfekt, aber mit Liebe gemacht.«
Inger lächelte
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