Liebesnöter
Speiübel.
Roger nahm sie in den Arm. »Beruhig dich. Was auch immer mit ihm ist, hier kann er dir nichts tun.«
»Ha!« Ella lachte auf. »Was weiß ich, wo er ist? Vielleicht kommt er gleich zur Tür hereingeschneit, schließlich wohnt er hier. Offensichtlich. Und wir sind die Einbrecher!« Sie spürte, dass sie sich überhaupt nicht mehr im Griff hatte. »Ich fotografiere die Bilder, und dann gehen wir!« Jetzt wurde sie hysterisch, das spürte sie. Und irgendwie war auch plötzlich Steffi da, die ihr sagte: Siehst du, hättest du die Finger davongelassen, Gespenster lässt man ruhen. Habe ich dir das nicht gleich gesagt?
»Langsam!« Roger ging vor einem Bilderstapel in die Hocke. »Jetzt schau ich trotzdem die restlichen Stapel noch schnell nach meinem Bekannten durch. Man kann ja nie wissen. Vielleicht haben wir es hier mit einer Massenmörderin zu tun.«
Ella konnte darüber nicht lachen. Wenn das so war, dann war Moritz seiner Meisterin begegnet.
Sie ging zu dem einzelnen Bild von ihm, drehte es um und setzte sich im Schneidersitz davor.
»So«, sagte sie leise. »Hier sind wir. Moritz, siehst du uns? Wir sind beide hier. Die Schwester, die du ertränkt hast, und die Schwester, die dich vernichten wird. Siehst du uns? Schau uns genau an. Es ist vielleicht das Letzte, was du sehen wirst.«
Wenig später kam Roger zu ihr.
»Ich habe alles durchgeschaut, mein Freund ist nicht dabei. War wohl eine andere Malerin, oder er war nicht malenswert.« Roger streichelte Ella übers Haar. »Der Sturm hat nachgelassen, möglicherweise hat der Kapitän den Motor wieder angeworfen, komm, wir stellen die Bilder zurück und gehen.«
Ella stand langsam auf.
»Hast du die Bilder fotografiert?«, fragte Roger.
Sie nickte. Aber es stimmte nicht. Sie hatte keines davon fotografiert. Sie trug schon an dem einen Portrait in ihrem Smartphone schwer.
»Dann komm, lass uns gehen.« Er reichte ihr die Hand zum Aufstehen. »Oder möchtest du noch bleiben?«
Ella schüttelte stumm den Kopf. Sie schaute hinaus. Tatsächlich, sogar die Sonne versuchte ein leises Comeback durch die aufreißende Wolkendecke. Und der Regen sprühte nur noch eine feine Gischt an die Fenster. Sie konnte den Blick nicht abwenden. Die Bäume, die Klippe, das weite Wasser, die Wiese mit den niedrigen Büschen, die Farne, die bemoosten Baumstümpfe, das alles hatte er auch gesehen.
Er lebte, und Inka war gegangen.
Als sie aufstand, fühlte sie sich um Jahre gealtert. Sie hatte es geahnt, sie hatte es herausgefordert, aber die Wahrheit war furchtbar. Moritz lebte. Er hatte sich damals davongestohlen in jener Nacht, er hatte sie alle in der Ungewissheit zurückgelassen, er hatte den leichtesten Weg gewählt, während die Zurückgelassenen mit ihrer Trauer um Inka allein geblieben waren.
»Geht es dir gut?« Roger stand neben ihr und betrachtete sie besorgt.
»Es geht«, sagte sie. »Danke, es geht.«
Er bot ihr wieder die Hand, und diesmal stand sie auf.
Es blies noch ordentlich, aber es war kein Vergleich mehr zu vorher, und auch der Regen hatte aufgehört. Die frische Luft tat gut. Roger zog die Haustür hinter ihnen zu, dann legte er den Arm um Ella.
»Komm«, sagte er. »Lass uns ein paar Schritte gehen, das bringt Abstand zwischen uns und das Haus. Und neue Gedanken ins Hirn.«
»Ich kann nicht mehr denken!«
»Was ist so schlimm daran, wenn dein alter Schulkamerad wieder auftaucht? Er war euch doch keine Rechenschaft schuldig? Bei mir sind alle Schulkameraden verschwunden, wenn ich es recht bedenke.« Rogers Plauderton konnte sie nicht täuschen. Er brannte vor Neugierde.
»Ich werde dir das erzählen«, sagte sie, um ihm zuvorzukommen. »Aber nicht jetzt. Jetzt muss ich mir erst einmal über alles klar werden.«
Er warf ihr einen Blick von der Seite zu und schwieg. Sein Arm hielt sie noch immer fest, und gemeinsam blieben sie an den großen Felsen stehen, die steil in die Tiefe abfielen. Unten gurgelte das Wasser. Ella schaute hinunter. »Wenn ich hier wohnen würde, hätte ich längst ein Geländer anbringen lassen«, sagte sie. »Wie schnell ist man ausgerutscht, oder stell dir vor, im Dunkeln genügen ein paar Schritte zu viel, und du machst einen Abgang.«
»Ich nicht«, erklärte Roger. »Ich bestimmt nicht.«
Ella verharrte.
»Wer dann?«
»Keine Ahnung, aber ich nicht! Ich zitiere nur deinen letzten Satz: Im Dunkeln genügen ein paar Schritte zu viel, und du machst einen Abgang. Und ich habe dir nur geantwortet, dass ich nicht
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