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Liebesnöter

Liebesnöter

Titel: Liebesnöter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaby Hauptmann
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erst vor Kurzem, als Steffi nach New York geflogen war? Angeblich nach New York. Lieber Himmel, wie sollte Ella das herausbekommen?
    Etwas in Ella sträubte sich, diese Erkenntnis als Wahrheit anzunehmen. Steffi, die sie wieder und wieder über den Verlust ihrer Schwester hinweggetröstet hatte, war auf Moritz gestoßen und hatte Ella nichts gesagt. Nicht nur das, sie hatte sich in ihn verliebt. Wie konnte man sich in einen Mörder verlieben? In den Mann, der die Schwester der besten Freundin umgebracht hat?
    Das werde ich nie verstehen, dachte Ella. Nie. Und sie wird es mir auch nie erklären können!
    Ella ging am Bootshaus entlang bis vor zur Straße, dann blieb sie stehen. Das Taxi war weg. Nein, bitte, dachte sie, das darf doch jetzt nicht wahr sein. Die Dämmerung zog schon über den See heran, und sie stand hier in der Einöde, mit einem leeren Handy-Akku und einer bekifften Einbrecherbande im Rücken. Gleich wird Moritz noch aus dem See steigen, dachte sie, und schon der Gedanke daran ängstigte sie. Aber das Wasser sah auch wenig einladend aus. Wie ein großer Vorhang glitt eine dunkle Wand auf sie zu und kam näher und näher. Sie konnte schon kaum noch die Konturen der Inseln erkennen. War es Regen, was da kam? Oder waren es die Vorboten eines Sturms, wie am Vormittag? Ella schaute sich um. Wo sollte sie Zuflucht suchen?
    Ins Haus zurück wollte sie nicht, das war klar. Sie drehte sich nach dem verriegelten Tor des Bootshauses um. Dieses Brett ließ sich sicherlich leicht aus der Verankerung schieben. Der Wind fuhr Ella durch die Kleider und Haare, und sie fror, so feuchtkalt blies es jetzt. Verdammt, dachte sie, wann komme ich endlich dazu, mir eine warme Jacke zu kaufen? Flüchtig dachte sie an Roger und seinen Schal, aber das konnte sie jetzt auch nicht mehr ändern. Ella zog den Balken aus den hölzernen Halterungen, die rechts und links auf den Torflügeln angebracht waren, und zog anschließend das rechte Tor auf. Es knarrte, aber es ließ sich trotzdem erstaunlich leicht bewegen. Ella ging hinein, den Schienen am Boden nach. Ein großes Schiff lag direkt vor ihr, und das Tageslicht reichte gerade noch aus, um zu erkennen, dass es in einem riesigen Holzgestell saß. Von unten sah der dunkle Rumpf gespenstisch aus. Groß und mächtig und unheimlich. Ella blieb stehen. Da krachte das Tor hinter ihr zu, und es wurde stockdunkel.
    Ella rührte sich nicht. Sie lauschte. War ihr jemand gefolgt? Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Sie hielt den Atem an. Wieder das Geräusch, als schlurfe etwas am Boden entlang, aber nur ganz kurz, dann war es wieder still. In diesem Moment zerrte der Wind am Tor, zog es auf und knallte es wieder zu. War das eine menschliche Silhouette, die Ella in dem Bruchteil einer Sekunde gesehen hatte? Sie war sich nicht sicher. Langsam bewegte sie sich in Richtung Schiffsrumpf. Schritt für Schritt, darauf bedacht, keinen Lärm zu machen, nirgends anzustoßen. Sie hatte eine Gänsehaut, und sie hatte Angst. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Plötzlich fing es an, wie verrückt auf das Dach zu trommeln, und Ella fuhr zusammen. Hagel, dachte sie. Es hagelt. Beruhige dich! Zumindest bist du im Trockenen. Ein monotones Gehämmere setzte über ihr ein, in dem jedes weitere Geräusch unterging. Er konnte nun direkt auf sie zugehen, und Ella würde es nicht hören. Oder aber sie konnte am Schiffsrumpf entlang nach hinten ausweichen. Sie fasste nach dem Boot. Es war aus Holz, aber das Material fühlte sich rau und uneben an, wie von vielen kleinen Pickeln übersät. Muscheln, dachte sie. Gut, dass sie es nicht sah, sie hätte sich sicherlich geekelt, jetzt aber bot ihr der Rumpf Schutz. Tastend ging sie den Rumpf entlang rückwärts. Das Tor schlug erneut auf und zu, aber es gab kein Gegenlicht mehr, in dem Ella irgendetwas hätte erkennen können. Du hörst und siehst Dinge, die es nicht gibt, sagte sie sich. Warum sollte hier einer herumlaufen? Wozu? Das machte doch keinen Sinn.
    So, entschied sie sich, jetzt gehst du vor an das Tor und wartest, bis dieser Hagelschauer vorbei ist, und dann soll dir jemand aus dem Haus ein Taxi rufen, das kann ja nicht so schwer sein.
    Ella wollte gerade losgehen, da flammte vor ihr ein Feuerzeug auf und beleuchtete kurz ein Gesicht. Hohlwangig, mit tiefen Augenhöhlen. Ella schrie los. Sie stolperte rückwärts, bevor sie sich fassen und fliehen konnte.
    »Stopp, halt!«, hörte sie und blieb unwillkürlich stehen. Zumindest war es kein Geist.

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