Liebling der Götter
»Trotzdem nichts für ungut, aber ich muß jetzt weiter …«
»Nein, ich meine, ob Sie kürzlich einen Hund gesehen haben.«
Vergil dachte kurz nach. »Eigentlich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr. Da ich mich mit diesen Viechern aber schon lange nicht mehr abgebe, kratzt mich das auch nicht sonderlich.«
Pluto musterte ihn aufmerksam. »Ich kenne Sie doch irgendwoher, stimmt’s?«
Vergil schüttelte energisch den Kopf. »Mich? Das ist ziemlich unwahrscheinlich.«
Pluto runzelte die Stirn und schlug plötzlich einen ganz anderen Ton an. »Und ob ich dich kenne, Freundchen. Du bist doch schon längst tot.«
»Na ja, in rein biologischer Hinsicht bin ich das wohl, aber ich versuche, das nicht allzu genau zu nehmen«, druckste Vergil herum. »Dort, wo du herkommst, schätzt man Taktgefühl offenbar genauso hoch wie die äußere Erscheinung. Aber jetzt muß ich leider …«
»Was hast du hier überhaupt zu suchen?«
»Wo?«
»Na, hier natürlich, im Land der Lebenden. Du solltest oben im …«
»Für dich gilt ja wohl dasselbe«, unterbrach ihn Vergil rasch. »Ich hab’s leider eilig. Tschüs.«
Zum Glück des Dichters hatte Pluto etwas anderes vor, da sich der Exgott des Todes trotz aller gegenteiliger Bemühungen nie richtig zur Ruhe gesetzt hatte. Und obwohl Pluto überhaupt nichts von toten Leuten hielt, die auf der Erdoberfläche umherspazierten, um an der großen Lebenskette herumzumanipulieren und alte Damen zu erschrecken, ließ er die Angelegenheit auf sich beruhen und setzte die Suche nach dem Hund fort.
Die Verfolgung gestaltete sich leichter als erwartet, da die Kacheln an den Korridorwänden bereits zischende Blasen warfen und der Geruch unverwechselbar war; selbst wenn er drei Köpfe hatte, unsterblich war und die menschliche Sprache beherrschte, so blieb Zerberus doch in erster Linie ein Hund.
Kaum hatte er den normalen Alltag hinter sich gelassen, überkam Pluto dieses altgewohnte Gefühl der Unruhe, verbunden mit einem gewissen Hauch von Nostalgie. Zwar war es schon Jahre hergewesen, als er die Hölle (die er lieber als seinen zweiten Altersruhesitz bezeichnete) das letztemal besucht hatte, aber irgendwie war er nie richtig davon losgekommen.
Mein Gott! sagte Pluto zu sich selbst, während er durch die endlos langen Gänge spazierte. Was ist denn hier passiert? Sicher, sonderlich anheimelnd war es hier unten nie gewesen – zu viele Quälgeister –, aber immerhin hatte er sich stets die Mühe gemacht, wenigstens etwas Behaglichkeit aufkommen zu lassen. Mit der einen oder anderen Topfpflanze hier und dem einen oder anderen Bilderrahmen da kann man eine Menge erreichen. Und warum nicht einen gelegentlichen Farbtupfer und eine Rolle Rauhfasertapete, wenn es das Budget erlaubt? Selbst so kleine Dinge wie ein Tisch, ein paar Stühle und einige alte Illustrierten boten den Gästen (Pluto behandelte alle Anwesenden stets als Gäste) eine willkommene Abwechslung. Schließlich müssen hier viele Menschen eine Menge Zeit verbringen, und deshalb kann man wenigstens versuchen, sie darin zu ermutigen, sich hier einigermaßen zu Hause zu fühlen … Er schüttelte betrübt den Kopf und versuchte sich daran zu erinnern, wo sich normalerweise der Wäscheschrank befand.
Im selben Augenblick als er den Bahnsteig erreichte, fuhr auch der Zug ein. Er sprang behende durch die Tür und stieg mit gekonnter Leichtigkeit über die zusammengequetschten Körper. Wie er sich erinnerte, war der Zug zu dieser Tageszeit stets rappelvoll, dennoch gelang es ihm, sich bis zu einem dieser Eckplätze vorzukämpfen, über denen das kleine Hinweisschild angebracht war: Bitte geben Sie diesen Platz frei, falls er von einer unwiderruflich verdammten Person gebraucht wird. Er machte einen unwiderruflich verdammten Gesichtsausdruck und setzte sich. Gerade als er sich fragte, wohin der Hund gelaufen sein könnte, sah er jemanden über sich stehen.
»Ich habe gesagt, die Fahrkarte bitte.«
Pluto blickte in zwei leuchtende Punkte, die er zunächst für zwei blaue Laserstrahlen hielt, und erstarrte fast vor Schreck.
»Haben Sie nun einen Fahrausweis oder nicht?« fragte das Gespenst.
Pluto zuckte leicht zusammen, und das Gespenst blickte ihn finster an; obwohl bis zum heutigen Zeitpunkt verständlicherweise nie richtig untersucht werden konnte, ob ziegenköpfige Monster mit gelben Reißzähnen überhaupt finster dreinblicken können. Dann sammelte er sich und antwortete: »Ehrlich gesagt, nein«, und fügte hinzu: »Sie
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