Liebling der Götter
wie eine Stadt in Menschengestalt über den gesamten Gebirgshang.
Wie ein Lebensmüder, der kurz zuvor aus dem obersten Stockwerk eines Hochhauses gesprungen ist, liegt sie, alle viere von sich gestreckt, mit dem Kopf nach unten da. Hand- und Fußgelenke sind an den Gebirgsgipfeln mit Ketten aus Adamant gefesselt (dieser imaginäre Stein von großer Härte ist bei erfahrenen Kettenmachern zwar nicht allererste Wahl, aber da es im Grunde der Zorn des großen Gottvaters war, durch den der Gefangene dort festgehalten wurde, handelt es sich hierbei wohl eher um eine Frage von rein akademischem Interesse). Um den Körper des Gefangenen kreist ein großer rotschnäbliger Adler. Bei dem Riesen handelt es sich um Prometheus [1] .
Ach, Sie haben sich das schon gedacht? Gut gemacht.
Der Adler steuert auf den Mittelpunkt der Sonne zu, dreht ab und stürzt mit ausgefahrenen Krallen herab; wie mit Fleischerhaken krallt er sich damit auf dem Rücken des Gefangenen fest und hackt mit dem Schnabel in den nur halb abgeheilten Fleischwunden herum. Dann tut er das, was er seit der Erschaffung der Welt täglich zweimal getan hat, und beginnt damit, sich an der Leber des Gefangenen satt zu essen.
»Igitt, igitt, Zwiebeln!« beschwert er sich zum wiederholten Male.
Prometheus hebt das langhaarige Haupt vom Felsen. Seine Zähne sind zusammengebissen, die Augen fest geschlossen und die Lippen von der Anstrengung halb geöffnet. Er versucht angestrengt, nicht zu kichern.
Schon vor Tausenden von Millionen von Jahren, als die Götter zuerst den Menschen schufen, hatte Prometheus mit den armen nackten Sterblichen Mitleid und stahl vom Himmel das Feuer (und noch etwas). Dann trug er das Feuer zur Erde hinab und übergab es den Menschen, damit diese es im Winter warm und in der Dunkelheit hell hatten und etwas besaßen, auf dem man einen Kessel erwärmen konnte. Um die Wahrheit zu sagen, scherten sich die Götter nicht weiter um das Feuer, es war der Verlust dieser anderen Sache, der sie wirklich in Rage brachte.
»Guten Morgen«, sagte der Adler.
»Guten Morgen«, antwortete der gute Riese.
Der Adler zögerte kurz und blinzelte mit den grausamen, lidlosen Augen in die Wolken. »Das Wetter schlägt mal wieder um.«
»Ach, wirklich?« erkundigte sich der Riese höflich.
»Auf jeden Fall fällt mehr Schnee, und es sollte mich nicht wundern, wenn es starken Frost gibt«, fuhr der Adler fort. »Kann ich etwas für dich tun?«
»Ja, wenn du willst, könntest du mir mal die Seite umblättern.«
»Moment.« Der Adler wischte sich den Schnabel an den Flügelfedern ab, hüpfte zum Kopf des Riesen hinüber und blätterte mit dem Schnabel eine Seite des riesigen Buches um, das aufgeschlagen unter Prometheus’ Nase lag. Dann beschwerte er die Seiten mit kleinen Steinen, damit sie von dem beißenden Wind nicht umgeschlagen werden konnten.
»Ist das Buch gut?« erkundigte sich der Adler.
»Geht so«, antwortete der Riese, »aber lange nicht so gut wie sein vorhergehendes.«
»Man landet nun mal nicht immer einen Volltreffer«, bemerkte der Adler.
Prometheus wackelte mit den Ohren – die einzige Geste, die ihm aufgrund der Ketten und der anderen Umstände als körperliche Ausdrucksmöglichkeit geblieben war – und seufzte: »An einigen Stellen klingt mir das alles zu selbstverliebt, weißt du, etwas zu abgehoben. Aber im großen und ganzen ist es in Ordnung.«
»Hast du noch viel zu lesen, Promi?«
Prometheus dachte kurz darüber nach und antwortete dann: »Nein, eigentlich nicht. Aber mal was anderes: Könntest du, bevor du dich wieder davonmachst, das Diktiergerät einschalten?«
»Sicher«, willigte der Adler ein, wobei er sich mit einer seiner fleischerhakenähnlichen Krallen hinter dem Ohr kratzte. »Ach, da gibt’s übrigens noch etwas.«
»Und was?«
»Faldo hatte am dreizehnten Loch einen Punkt Vorsprung, Balesteros liegt bereits drei Punkte zurück, und Langer ist schon völlig abgeschlagen. Ich dachte mir, das würde dich interessieren.«
»Mach nur weiter so«, stöhnte Prometheus. »Das baut mich wieder richtig auf.«
Der Adler zuckte mit den Flügeln. »Ich könnte dir ein Radio holen. Kein Problem.«
Prometheus lächelte. »Das ist wirklich nett von dir, aber wie soll ich es ausschalten, wenn wieder mal Musik gespielt wird? Es ist hier oben sowieso nicht sonderlich amüsant, und wenn dir die ganze Zeit Vivaldi in den Ohren dröhnt, um so schlimmer.«
»Ganz, wie du meinst …«
Der Adler spreizte die Flügel,
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