Liebling, Ich Kann Auch Anders
Frauen.
Eva hatte den Arenenberg bei einer ihrer Radtouren besucht. Doch damals war sie etwas zu spät dran gewesen für das Museum, das um fünf schließt. So hatte sie sich aus ihrem Geschichtswissen und der Lektüre einiger historischer Romane während ihrer Jugend eine entsprechende Vorstellung gebildet, die nun einer gründlichen Revision bedurfte. Für das ›Seminar Marcel Proust‹ stand den Teilnehmerinnen nämlich eine sehr kompetente Museumsführerin zur Verfügung, die ein äußerst eindrucksvolles Persönlichkeitsbild der vielseitigen Schlossherrin entwarf. Hortenses Ehe mit Louis Bonaparte, aus der nebst Napoleon III zwei weitere Söhne hervorgingen, stand unter keinem guten Stern. Dessen ungeachtet hielt sie zunächst in Frankreich, später in Deutschland und dann im Thurgau Hof und pflegte Beziehungen zu wichtigen internationalen Persönlichkeiten aus Politik, Adel, Künsten Finanzwesen und Wissenschaften.
Mit großem Geschick versah sie während der berühmten hundert Tage zwischen Elba und St. Helena die Rolle der Frau an ihres Stiefvaters (und Schwagers) Seite. Napoleons zweite Frau Marie Louise war nach dessen Niederlage 1814 mit ihrem Sohn Napoleon II nach Wien zurückgekehrt und Josephine, seine erste Frau, im Jahr zuvor gestorben. Hortense, ihre Tochter, hatte die einstige Kaiserin jedoch von klein auf im Wissen um Repräsentationspflichten unterwiesen.
Waterloo bedeute das Aus für die Bonapartes in Frankreich. Die meisten Familienmitglieder zog es nach Italien. Hortense hingegen wählte für sich und die Ihrigen die Bischofstadt Konstanz. Dort trug sie mit ihren Beziehungen und neu geknüpften Verbindungen in der Folgezeit dazu bei, dass die Stadt und die ganze Umgebung einen bedeutenden kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung nahmen. Da Frankreich und Österreich gegen die Pläne der tatkräftigen und bestens vernetzten Ex-Königin angingen, in Konstanz einen napoleonischen Hof zu installieren, schaute sie sich in der Umgebung um und wurde am Thurgauer Bodenseeufer fündig. Sie legte einen großartigen Park an. Ganz im Geiste Jean Jacques Rousseaus, mit einem italienisch und einem englisch geprägten Teil, der internationale Vorbildfunktion erlangte, die bis heute nachwirkt. Das prominenteste Beispiel dürfte die Insel Mainau sein. Das Schlösschen mit herrlichem Blick auf Untersee und Hegauberge richtete sie im Stil des geliebten Wohnsitzes ihrer Mutter, Schloss Malmaison, und ihres einstigen Pariser Wohnsitzes Schloss St. Leu ein. In diesem zauberhaften Domizil empfing sie von überallher interessante Menschen aus allen Bereichen des Lebens, von denen sie sich Inspiration und Wissen versprach. Ihr Einfluss und ihre Strahlkraft ließen sie zu einer gefürchteten und argwöhnisch observierten Person für Geheimdienste zahlreicher Staaten und vor allem die Vertreter der französischen Restauration werden.
»Ich finde, wir sollten diese faszinierende Frau zur Schirmherrin unserer heutigen Unternehmung erklären«, forderte Claudia, eine füllige blonde Zahnärztin mit lustigen Wangengrübchen aus Bregenz. »Sie ist doch ein wunderbares Beispiel dafür, dass eine begabte Frau, die sich nicht unterkriegen lässt, so ziemlich alles erreichen kann – auch wenn ihr übel gesonnene Männer noch so viele Prügel zwischen die Beine werfen. – Mädels, lassen wir uns nicht deprimieren, sondern besinnen wir uns auf unsere Stärken!«
Die anderen pflichteten ihr bei und fühlten sich mit Blick auf die Historie der Umgebung in ihrem Verlangen nach ausgleichender Gerechtigkeit aus tiefem Herzen motiviert.
Im Ferienhaus servierten Charlotte, die in Absprache mit Eva einiges vorbereitet hatte, und ich Getränke und Gebäck auf der hübschen Uferterrasse, während Sibylle im Haus und vor dem Haus ihre Vorbereitungen traf. Vom Gartentor ausgehend, legte sie eine Spur aus Blumen, Bonbons und mit Aphorismen beschrifteten Zettelchen, die mit Steinen beschwert waren.
Die Aphorismen sollten unserem Special Guest vor allem im Nachhinein zu denken geben. Am Türknauf hing ein schwarzes Seidentuch. Das musste sich Marcel gemäß Giulias Instruktionen umbinden, bevor er auf den Klingelknopf drückte. Sie selbst sparte sich diesen Akt.
Kurz vor fünf kamen die Frauen ins Haus. Sie hielten sich in der Küche und im Esszimmer auf, während Sibylle Marcel im Wohnzimmer platzieren wollte.
Der Gast war pünktlich.
»Kannst du auch wirklich nichts sehen?«, krächzte Sibylle, bevor sie die Tür
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