Liebling, Ich Kann Auch Anders
sich ja ohnehin in Heiserkeit, und mir fiel es nicht allzu schwer, ähnlich wie Eva zu klingen. Schließlich hatte ich ihre Stimme ja seit Jahren im Ohr. Die Einzige, mit der es mehrere Gespräche gegeben hatte, die allerdings überwiegend organisatorischen Belangen dienten, war Charlotte, unsere Gastgeberin im Ferienhaus. Doch sie hatte ausschließlich mit Eva gesprochen, von der ich dann eingehend instruiert worden war.
Natürlich beäugten wir uns, beäugten sich alle gegenseitig mit großem Interesse, und vermutlich auch einige mit einer Spur eifersüchtigen Misstrauens. Es gab keine eindeutig übereinstimmenden Merkmale. Marcels Opfer waren zwischen Ende zwanzig und Anfang fünfzig, groß, klein, zierlich, athletisch, mollig, lang-, kurz-, kraus-, glatt-, rothaarig, blond oder brünett. Elegant, lässig oder sportlich in der Aufmachung. Marcels Neigung zu Frauen trug also zumindest sehr demokratische Züge.
Keine kannte übrigens seinen wahren Namen. Und wo er wohnte, wussten sie auch nur ungefähr. Dafür hatte er allen dieselben Geschichten erzählt. Über seine Mutter, das Internat und seine Jünglingsstreiche. Das fanden sie schnell heraus. Sie brauchten nur von einem Grüppchen zum anderen zu gehen. Überall fielen dieselben Schlüsselbegriffe.
Sibylle bemühte sich nach Kräften, den Gesprächen, in die sie sich einklinkte, eine heitere Note einzuimpfen, aber damit konnte sie nicht bei allen landen.
Es gibt jede Menge Frauen, die einem Mann nicht so leicht verzeihen, dass sie sich ihm hingegeben haben. Schon gar nicht, wenn er sich anschließend sang- und klanglos aus dem Staub gemacht hat.
Wie sich herausstellte, hatte Marcel weitestgehend auf sein intaktes Immunsystem vertraut. Allerdings hatte keiner der anschließend ängstlich bis panisch durchgeführten Tests einen Befund erbracht.
Nach einem leichten und gesunden Mittagessen, das Eva zuvor mit dem Küchenchef abgesprochen hatte, hielt Sibylle noch eine kurze Ansprache. Sie grüßte die anwesenden Damen von einigen abwesenden, die es tief bedauern, nicht dabei sein zu können. Das führte in Anbetracht der großen Zahl einen Moment lang zu erheblichem Raunen.
Dann teilte sie ihnen mit, jede Einzelne bekäme die Chance, sich unter vier Augen mit Marcel auszusprechen. Sie bat jedoch scheinheilig darum, dabei den Rahmen des Legalen zu wahren und trotz verständlichen Zorns keine Selbstjustiz zu üben.
Anschließend begab sich die Gruppe zum Bus. Die Frauen, die die Gegend noch nicht kannten, waren äußerst angetan.
Der Nebel, der am Morgen die ganze Landschaft wie in Milchschaum getaucht hatte, war ganz allmählich gestiegen und hatte sich gelichtet. Jetzt war es deutlich heller geworden, und gegen drei hatte sich dann die Sonne durch die Wolken genagt und versprach zumindest für ein paar Stunden einen milden sonnigen Herbsttag.
Vom Arenenberg aus bot sich uns ein malerischer Blick über den blau schimmernden Untersee, schmucke Orte am Ufer und herbstlich verfärbte Weinberge und Wäldchen. Die anfängliche Beklommenheit hatte sich gelegt. Die Stimmung war gehoben, jedoch ziemlich angespannt. Sie glich der Atmosphäre vor einem Wettkampf.
»Warum ausgerechnet zur Napoleongedenkstätte?«, habe ich Eva gefragt, als sie mir von der Tagesplanung erzählte.
»Oh, der Blick vom Schlösschen aus ist wunderschön! Und Napoleon ist sicher gut geeignet, die Frauen ein bisschen in Rage zu bringen.« Sie hatte verschmitzt lächelnd hinzugefügt: »Hortense, die das Schlösschen bewohnte, war die Tochter seiner ersten Frau, der schönen Josephine, von der er sich scheiden ließ, weil die Ehe kinderlos blieb und er aus Staatsräson eine österreichische Prinzessin heiraten wollte. Die befolgte zwar den Wunsch ihres Vaters, hasste den Empereur aber gründlich und soll ihm – pikante Fama am Rande – ein Kuckucksei untergejubelt haben … Er hat dann unter anderem seine Stieftochter mit seinem Bruder, dem ersten König von Holland, ihrem Stiefonkel, verkuppelt. Immer schön alles unter Kontrolle halten!«
»Aha, und von dieser Konstellation versprichst du dir eine zusätzliche emotionale Erregung.«
»Ja klar! Heute gäbe es das nicht mehr, wir ließen uns das nicht gefallen, wir suchen uns unsere Männer selber aus!«
»Genau! Und plumpsen dann in umso tiefere Abgründe …«
Die beabsichtigte Erregung sollte sich nicht einstellen, die Auseinandersetzung mit Königin Hortense bot jedoch auf ganz andere Art Inspiration für die
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