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Liebling, Ich Kann Auch Anders

Liebling, Ich Kann Auch Anders

Titel: Liebling, Ich Kann Auch Anders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Kast-Riedlinger
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er eine Weile unterwegs, dann hat der oder die andere geantwortet, seinerseits den Brief zur Post gebracht und irgendwann kam er an. Und so weiter. Zwischen Abschicken, Empfangen und Antworten fand Alltag statt. Echtes Leben. Die Korrespondenz war im Tagesablauf mal mehr und mal weniger präsent. Und es gab jede Menge Zeit, darüber nachzudenken.«
    »Genau. Aber heute kannst du dich ja, wenn der Kühlschrank gut gefüllt ist, tagelang in deiner Bude einsperren und dich ausschließlich mit deinem Korrespondenzpartner unterhalten. Das ist ein richtiger Sog, der dich in die Abhängigkeit zieht. Und nun liegt es natürlich nahe, dass wir diese Person, mit der wir uns rund um die Uhr beschäftigen, in unserer Fantasie mit all den Qualitäten ausstatten, über die unsere ersehnte ergänzende Hälfte verfügt. Bei Hetero-Frauen ist’s der Typ, dem sie zutrauen, dass er ihr optimale Kinder produziert, bei Hetero-Männern, die Frau, der sie zutrauen, dass sie mit ihrem Samen gesunde Kinder austrägt. Bei Schwulen ist das mit dem Idealtyp ganz ähnlich. Narzisstische Charaktere bevorzugen zwar den Partner, in dem sie sich gespiegelt sehen, aber die meisten sind schon auch auf der Suche nach dem Komplementär-Modell, als ging’s um Fortpflanzung. Seit die Gentechnik jede Menge Türen aufgestoßen hat, scheint nicht mal das mehr ausgeschlossen.«
    Eva stellte sich ihrer beider Klonkinder vor, wie sie miteinander spielten und mit demselben Interesse wie sie einst einander erkundeten. Vielleicht würden die sich aber ganz anders entwickeln, weil sie andere Eltern hatten, die aus ihrem Wissen heraus diese oder jene Weiche anders stellten. Sie klinkte sich aus der faszinierenden Vorstellung aus und hörte wieder Leonardo zu.

    »Nun wissen wir zwar theoretisch alle, dass es dieses ideale Partnerwesen nicht gerade in zigfacher Auflage gibt. Aber sobald wir mit einer unbekannten Person schriftlich gut klarkommen, spielt uns unsere Fantasie einen Streich.«
    »Und dann werfen die Jungs den Mädchen vor, sie sähen nicht aus wie Anne Hathaway, und die Mädchen wundern sich, dass die Jungs nicht so einfühlsam und zärtlich sind, wie dieser edle Vampir.«

    »Also, um gegenseitige Kränkungen möglichst zu vermeiden, muss einfach eine Einrichtung her, wo sich die Leute aussprechen und gegenseitig unterstützen können. Wer sieht, dass es anderen ähnlich geht, fühlt sich gleich nicht mehr gar so erbärmlich. Ich bin wirklich gespannt, was im Seminar noch alles an Vorschlägen zusammenkommt …«
    Eva lächelte. »Ich denke, wir beiden können auch etwas beisteuern – obwohl wir lieber weniger betroffen wären.«
    In der folgenden Nacht konnte sie kaum schlafen. Um vier Uhr morgens zog sie ihre Laufschuhe an und rannte los. Hinunter zur Promenade am Konstanzer Trichter. Der nicht mehr ganz volle Mond erhellte die Nacht. Sein verzerrtes Spiegelbild schaukelte auf den kurzen Wellen. Sie lief weiter am Seerhein entlang, unter der Brücke hindurch, auf dem Radweg nach Westen. Ab und zu kam ein Auto. Stadteinwärts waren es ein paar mehr. Spätheimkehrer oder Schichtarbeiter.
    Da sie ohne Brille lief, blies ihr der Wind in die Augen. Aber sie vergoss nicht nur wegen des Windes Tränen, sondern auch aus Wut und Trauer. Mitten in dem ganzen emotionalen Desaster wurde sie sich nämlich darüber klar, dass sie sich während der Wochen des ausgedehnten Briefwechsels nicht nur in Marcel verliebt hatte, sondern dass er zu einem Bestandteil ihres Lebens geworden war, den sie zu diesem Zeitpunkt unter keinen Umständen aufgeben wollte. Dass Marcel wusste, wer sie war, während seine Identität und fast alles, was mit seiner Person zusammenhing, weiterhin im Dunkeln blieb, verunsicherte sie zutiefst. Als weitaus schlimmer empfand sie jedoch seinen völligen Alleingang bei der Entscheidung, sich von ihr zu distanzieren. Als wäre es ihm völlig gleichgültig, wie sie sich fühlte und was sie bei dem plötzlichen Entzug und offensichtlichen Mangel an Vertrauen empfand.

    Doch statt die rosa Brille abzusetzen, den Herrn endlich kritisch zu betrachten und festzustellen, dass er ausschließlich um seinen Nabel und die darunter liegende Region kreiste, ging Eva mit sich selbst ins Gericht und fragte sich, wie es möglich war, dass dieser Mann sie so gründlich aus dem Konzept bringen konnte: Ja, ja, ja, der wortgewandte unbekannte Charmeur hatte Samen auf einen brachliegenden Acker gestreut und zudem für eine großzügige Menge an warmen Regen

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