Lieblingslied: Roman (German Edition)
Taschen zu haben, doch es dauerte nicht lange, und eine größere Zuschauermenge begann, sich um mich zu scharen.
Bei meinem zweiten Stück hatte ich bereits meine Rückfahrkarte nach Wien verdient. Ich versuchte nicht daran zu denken, wie trist diese Fahrt werden würde.
Während des dritten Stücks hörte ich einen wohlhabenden Amerikaner zu seiner Frau sagen: »Mann, der Österreicher hat die Klampfe verdammt viel besser im Griff als jeder andere, den ich je gehört habe!« Aus der Größe seiner Gürtelschnalle schloss ich, dass er aus Texas kommen musste. Er ließ eine Fünfzigdollarnote in Karls Kasten fallen, blinzelte und winkte mir in texanisch großspuriger Manier zu.
Das war das fetteste Trinkgeld, das ich je in meiner Zeit als Straßenmusiker in Österreich erhalten sollte.
Ich nahm den Schein mit einem ebenso großzügigen Nicken an und sagte auf Deutsch: »Danke schön!«
Die vierte und letzte Nummer meines Repertoires war die allseits beliebte Bohemian Rhapsody . Auch diesmal enttäuschte sie nicht und öffnete in gewohnter Manier die Brieftaschen meiner Zuhörer. Ungefähr in der Mitte des Stücks waren bereits etliche Münzen und Geldscheine in den Gitarrenkasten gewandert. Kurz darauf schob ein französisches Ehepaar Sohn und Tochter nach vorn. Beide Kinder hielten Geld in der Hand und legten es zu den anderen Spenden. Das Stück erreichte den musikalischen Höhepunkt. Meine Finger tanzten geschmeidig und immer schneller über die Saiten.
Ich schloss die Augen und dachte an Anna und wie liebevoll sie mich vor dem Basiliskenhaus angelächelt hatte. Während ich mich dem Spiel hingab, versuchte ich mich an jede Einzelheit ihrer Erscheinung zu erinnern. Es gab so vieles an ihr, das ich vermissen würde. Ihre sanfte Stimme. Ihre zärtlichen Augen. Ihr fröhliches Lachen. Ihr aufrichtiges Wesen.
Beim Schlussakkord hielt ich die Augen noch immer geschlossen. Der letzte Ton war noch nicht ganz verklungen, da brauste Beifall auf. Das Publikum schien begeistert. Dann übertönte eine Frauenstimme den anhaltenden Applaus: »Ich bin nicht sicher, dass Sie dafür ein Trinkgeld verdient haben. Seit wann geht Queen als klassische Musik durch?«
Der Kommentar öffnete mir die Augen und brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Ich sprang auf. »Anna!«, schrie ich, ohne auf die übrigen Zuhörer zu achten. »Du bist da!«
»Du bist spät.«
Ich legte Karl zur Seite, ohne den Blick von ihr zu wenden. »Zu spät?«
Sie versuchte, sich ein Lächeln zu verkneifen. »Das hängt davon ab, ob deine Ausrede plausibel ist … und du mich auf einer Sound of Music -Tour begleiten willst.«
Ich versuchte, in ihren gespielten Ernst einzustimmen. »Okay. Ich schwöre dir, ich wollte pünktlich sein, wurde aber von einer alten Dame aufgehalten, die dringend ärztliche Hilfe brauchte.«
»Du hast einer alten Dame geholfen? Obwohl du gewusst hast, dass du dadurch zu spät kommen würdest? Wie edel von dir.«
»Also, nein … eigentlich habe ich inständig gehofft, dass sie aussteigen würde, damit wir endlich abfahren konnten. Wenn nötig, hätte ich ihr natürlich auch geholfen … wahrscheinlich … jedenfalls.«
Anna lachte. »Zumindest bist du ehrlich. Das macht deine Ausrede glaubwürdig.«
»Danke – finde ich auch. Jetzt zum Sound of Music . Gibt es tatsächlich eine solche Tour? Ich dachte, ich hätte schon alles unternommen, was man hier unternehmen kann.«
Anna schlug eine kleine Broschüre mit dem Bild von Julie Andrews in der Tracht einer Novizin auf. »Natürlich. Bist du dabei?«
»Zusammen mit dir? Keine Macht der Welt könnte mich daran hindern.« Ich hielt inne und sah mich um. »Was ist mit Magda? Ist sie auch dabei?«
»Ah, Magda! Du vermisst sie also. Ich sag es ihr, wenn ich sie das nächste Mal treffe.«
»Und wann ist das?«
»Morgen. In Venedig. Sie ist schon auf dem Weg dorthin … zusammen mit meinem Gepäck. Unser Zug ist kurz vor zehn Uhr heute Morgen durch Salzburg gekommen. Ich habe die Reise unterbrochen. Sie ist weitergefahren.«
»Dachte nicht, dass Salzburg auf deiner Reiseroute liegt.«
Bei ihrem Lächeln tat mein Herz einen Sprung. »Lag es ursprünglich auch nicht. Ich habe einen Tag in Venedig für den Umweg über Salzburg geopfert.«
»Gute Entscheidung. Kann ich gut verstehen. Bei drückender Hitze auf den Spuren eines uralten Rodgers und Hammerstein Musicals durch Salzburg zu pilgern ist auch viel interessanter als, sagen wir, eine Gondelfahrt zum Markusplatz und
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