Lieblingslied: Roman (German Edition)
eine Besichtigung des Doms und des Dogenpalasts.«
Anna knuffte mich spielerisch in den Arm. »Weder Sound of Music noch sonst was interessiert mich an Salzburg.« Sie trat einen Schritt näher. »Ich wollte jemanden treffen. Einen Kerl, wenn du’s wissen willst. Einen Typen, an den ich dauernd denken muss.«
Ich trat ebenfalls näher. »Meinst du diesen super netten, richtig gut aussehenden Typen?«
»Ja, den meine ich. Und ich war sicher, dass er mich ebenfalls wiedersehen möchte – wenn auch nur für ein paar Stunden.«
»Und? Ist er aufgetaucht?«
Anna legte die Hand auf meinen Arm und beugte sich zu mir. Für einen Moment dachte ich, sie wolle mich küssen. Ich hoffte es wenigstens. Aber als sie mir so nahe war, dass ich ihren Atem spürte, stieß sie ein spitzbübisches Lachen aus und sagte: »Leider nein. Er hat mich versetzt. Pech für mich. Er war wirklich was Besonderes.« Sie hob die Hände. »Na ja, wenigstens bist du jetzt da. Ist doch immerhin was, oder?«
Wie neckisch .
»Sicher. Zumindest hast du jetzt eine Schulter, an der du dich ausweinen kannst. Dafür bin ich immer gut.«
»Genau!« Sie gab mir einen Klaps gegen die Brust und trat einen Schritt zurück.
Die folgenden Stunden schlenderten wir durch die Stadt und versuchten zu rekonstruieren, welche Szene aus The Sound of Music an welchen Orten gedreht worden waren. Am besten gefiel mir der Platz vor dem Kloster Nonnberg, wo wir zusammen eine bewegende Version des Songs Do You Solve a Problem Like Maria sangen. Aber die meiste Zeit redeten wir einfach. Und lachten. Und neckten uns. Und redeten endlos.
Auf dem Weg machten wir am Bahnhof Halt und gaben Karl für ein paar Schilling in die Gepäckaufbewahrung, wo ich das Instrument später wieder abholen wollte. Auf diese Weise konnte ich unbeschwert Hand in Hand mit Anna durch Salzburg schlendern.
Am Nachmittag ließen wir uns von einem Taxi dreißig Kilometer weit bis Berchtesgaden fahren, eine Kleinstadt jenseits der Grenze nach Deutschland. Von dort nahmen wir einen Touristenbus, der uns auf eine Tour durch die Alpen und zum Obersalzberg, Hitlers ehemaligem bayrischen Feriendomizil brachte. Es war ein ernüchterndes, schauriges Erlebnis, den Spuren des größten Verbrechers gegen die Menschlichkeit zu folgen. Wobei die Aussicht auf die Bergkulisse der Umgebung von dort oben einfach grandios war.
Zur Aufheiterung suchten wir sämtliche der zahlreichen Touristentoiletten in den wenigen noch erhaltenen Gebäuden auf und hielten Ausschau nach einer Tür, an der die Klinke fehlte. Das klingt komisch, ist es aber nicht. Mein Großvater sprach nur selten über den Zweiten Weltkrieg, behauptete jedoch stets, bei jenem Truppenteil der Amerikaner gedient zu haben, der 1945 den Obersalzberg besetzt hatte. Und er erzählte, dass er die Türklinke einer Toilette als Souvenir mitgenommen hatte.
Zu unserer großen Enttäuschung hatten jedoch alle der Öffentlichkeit zugänglichen Toiletten Türklinken.
Am späten Abend kehrten Anna und ich nach Salzburg zurück und genossen ein Abendessen bei Kerzenschein in einem Tiroler Gasthof an der Salzach. Nach dem Essen war es Zeit, zum Bahnhof zurückzukehren, wo Anna ihren Zug in Richtung Süden erreichen musste.
Nachdem ich meine Gitarre aus der Gepäckaufbewahrung geholt hatte und wir auf dem Bahnsteig warteten, spielte ich »ihr« Stück, den Kanon in D-Dur .
Bevor ich jedoch begann, rückte sie auf der Bank näher zu mir heran und fragte: »Ethan, wie weit würdest du reisen, um mich wiederzusehen?«
»Wann?«, fragte ich aufgeregt.
»Darum geht es nicht. War nur eine rein hypothetische Frage. Wie weit würdest du reisen, um mich wiederzusehen?«, wiederholte sie.
»Also, das hängt davon ab.«
Sie gab mir einen Klaps aufs Knie. » Wie bitte ? Hängt wovon ab?«
»Davon, wie weit weg du bist.«
Ihr Lächeln sagte mir, dass ich die richtige Antwort gegeben hatte.«
Inzwischen begannen die Reisenden bereits, in Annas Zug einzusteigen. Trotzdem blieb noch genügend Zeit, den Kanon einmal für sie zu spielen. Während meine Finger die Saiten der Gitarre bearbeiteten, kritzelte sie etwas auf ein Stück Papier. Als ich geendet hatte, stand sie auf und steckte den gefalteten Zettel hinter die Saiten von Karl, wie sie das bereits vor dem Basiliskenhaus in Wien getan hatte. Allerdings beugte sie sich diesmal über die Gitarre auf meinen Knien und fügte noch eine sehr persönliche Note hinzu – einen zärtlich gehauchten Kuss auf beide Wangen,
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