Lieblingslied: Roman (German Edition)
»Ehm … Hallo. Ist Anna zu Hause?«
Er trat verlegen von einem Bein aufs andere. »Möglich. Erwartet sie Sie?«
»Vermutlich nicht.«
»Darf ich fragen, was Sie von ihr wollen?«
Ich wollte schon antworten, mit Anliegen habe das nichts zu tun, aber ich bezweifelte, dass mir das die Türen des Hauses öffnen würde. »Eine unerledigte Angelegenheit aus Österreich zu Ende bringen, könnte man vielleicht sagen.«
Der Mann nickte bedächtig und gab sich zugänglicher. »Dann sind Sie Ethan?«
»Ja, richtig. Und Sie müssen Mr. Burke sein?«
Er nickte. »Octavius.«
»Anna hat mir viel von Ihnen erzählt«, log ich. »Nur Gutes, natürlich.«
Das brachte mir ein Lächeln ein. Er bedeutete mir, einzutreten, schloss die Tür und bat mich im Flur zu warten. Nachdem er fast die ganze Treppe hinaufgestiegen war, die von der Diele in das obere Stockwerk führte, rief er: »Annaliese! Du hast Besuch!«
»Wer ist es?«
Beim Klang von Annas gedämpfter Stimme, rann es mir eiskalt über den Rücken.
Octavius wandte den Kopf, sah mich an und verzog das Gesicht zu einem spitzbübischen Lächeln, das mich an seine Tochter erinnerte. Dann rief er über die Schulter: »Oh, ist nicht wichtig.« Den Blick erneut auf mich gerichtet, fügte er hinzu: »Nur unter uns Männern, wenn ich Ihren Namen genannt hätte, hätte sie zwanzig Minuten für Frisur und Make-up gebraucht. Spart Zeit, wenn wir sie überraschen.«
Plötzlich war Octavius Burke mir sehr sympathisch.
Sekunden später ging eine Tür im zweiten Stock auf und heraus kam Anna. Sie sah in ihrem rotbraunen T-Shirt, grauer Pyjamahose und flauschigen, pinkfarbenen Hausschuhen bezaubernd aus. Bei meinem Anblick blieb sie abrupt stehen, schien zu begreifen, sah sofort an sich herab und bereute ihren legeren Aufzug sichtlich. Aber statt verlegen oder erschreckt zu reagieren, hob sie den Kopf und kam selbstbewusst die Treppe herunter. So als sei ihr klar, dass mir ihre Kleidung völlig gleichgültig war.
Anna sprach kein Wort, bis sie die unterste Stufe erreicht hatte und mir auf Augenhöhe gegenüberstand. Mit vertrautem Lächeln streckte sie die Arme aus, schlang sie um meine Schultern, umarmte mich freundlich. »Du bist also gekommen«, sagte sie in einer Mischung aus Freude und Zufriedenheit.
Ich grinste. »Hast du das nicht erwartet?«
»Ich hab’s gehofft, aber es sind inzwischen immerhin eineinhalb Monate vergangen. Du könntest mich also ebenso gut vergessen oder deinen Charme an eine andere naive Touristin verschwendet haben. Ist deine Examensfeier nicht schon vor zwei Wochen gewesen? Nach einer Woche habe ich mir schon Sorgen gemacht.«
»Tja, mein Charme ist eben umwerfend.«
Sie boxte mich in die Rippen. »Ich finde ihn plötzlich gar nicht mehr so überzeugend, wie ich ihn in Erinnerung hatte.«
»Also, um das richtigzustellen: Die Abschlussfeier war erst vor acht Tagen. Und nach meiner Rückkehr nach Oregon hat es doch länger gedauert, bis ich einen fahrbaren Untersatz auftreiben konnte, um nach Idaho zu fahren. Vor meiner Abreise nach Europa hatte ich sämtliche Habseligkeiten verkauft. Darunter auch mein Auto. Also waren meine Möglichkeiten beschränkt. Meinen Großvater zu überreden, mir seinen Pick-up zu leihen, war so schwierig wie Magda rumzukriegen, die Hundertwasser Müllverbrennungsanlage zu besuchen. Gestern Abend hat er eingelenkt. Und heute Morgen bin ich aufgebrochen.«
Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. »Dann ist die Feier nicht schon vor zwei Wochen gewesen?«
»Du musst mich mit dem anderen Typen verwechselt haben. Mit dem, der dich in Salzburg versetzt hatte.«
»Ja, kann sein. Na, wenigstens hat es einer von euch beiden hierher geschafft.«
Octavius und Anna lebten allein im Haus. Julia, Annas Mutter, war an Krebs gestorben, als Anna im Teenageralter gewesen war. Die Tatsache, dass wir beide unsere Mütter viel zu früh verloren hatten, war für uns von Anfang an eine verbindende Gemeinsamkeit gewesen. Annas ältere Brüder waren bereits aus dem Haus. Lance, der Älteste, lebte in Pocatello, am anderen Ende des Bundesstaates. Er unterrichtete Werken an der Junior High School, um seine ausgefallenen Abenteuerreisen während des Sommers zu finanzieren, die ihn in die ganze Welt führten. Der Zweitälteste, Stuart, war ein Computerfreak und hatte seine eigene Firma in Silicon Valley gegründet.
Anstatt mich in ein Motel zu schicken, bot Octavius mir überraschenderweise Stuarts altes Zimmer als Übernachtungsmöglichkeit
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