Lieblingslied: Roman (German Edition)
Zug stand noch immer im Bahnhof. Ich hätte am liebsten laut geflucht. Mittlerweile bestand kein Zweifel mehr, dass ich zu spät in Salzburg eintreffen würde. Selbst wenn der Zug in den nächsten Minuten abfahren würde, konnte er Salzburg erst am späten Vormittag erreichen. Und von meinem Zielbahnhof waren es noch weitere fünfzehn Minuten zum Treffpunkt mit Anna.
Fünf Minuten später bat die junge Frau gegenüber ihren Mann, nachzufragen, was die Verspätung verursachte. Er kehrte bald mit der Information zurück, dass eine ältere Dame aus der Schweiz in ihrem Abteil ohnmächtig geworden sei und sich bei ihrem Sturz die Stirn am Metallrahmen des Fensters aufgeschlagen habe. Statt sich zur Behandlung ins Krankenhaus zu begeben, bestand sie darauf, im Zug zu bleiben, um wie geplant zu ihren Enkelkindern in die Schweiz zu kommen. Das Zugpersonal war damit in der Zwickmühle: Sollten sie eine eigensinnige, achtzigjährige Ausländerin zwangsweise ruhigstellen und sie gegen ihren Willen aus dem Zug entfernen oder sie weiterfahren lassen und riskieren, dass sich ihr Zustand verschlechterte?
Welche Entscheidung getroffen wurde, sollte ich nie erfahren. Der Schnellzug jedenfalls fuhr eine Viertelstunde später endlich ab. Meine Verabredung mit Anna allerdings war durch die Verspätung endgültig geplatzt. Im günstigsten Fall erreichte ich das Mozarthaus in Salzburg um elf Uhr, also fast eine Stunde nach der verabredeten Zeit. Und das bedeutete, dass ich Anna verfehlen würde.
Ich betete stumm, dass der Zug die Verspätung aufholen konnte. Vergebens.
Bei meiner Ankunft in Salzburg hielt ich das erstbeste freie Taxi an und versprach dem Fahrer fünfzig Schilling Trinkgeld, wenn er mich so schnell wie möglich zu meiner Verabredung bringen konnte.
»Dat’s vat … five dollars American?«, fragte er in gebrochenem Englisch. »Ist weniger als ein Strafzettel für zu schnelles Fahren.«
»Na, wun-der-bar«, brummte ich.
Ich glaube, der Taxifahrer ist daraufhin besonders langsam gefahren, um mir seine Verachtung zu zeigen.
Wenige Minuten nach elf Uhr war ich schließlich in der Getreidegasse neun, dem Geburtshaus von Wolfgang Amadeus Mozart. Abgesehen von der Aufschrift Mozarts Geburtshaus in großen, goldenen Lettern an der Hausfassade, unterschied sich das Gebäude kaum von den übrigen Häusern in der Gasse. Mein Blick streifte hastig über die Menschenmenge, die von der Straße aus den historischen Ort bewunderte. Von Anna jedoch keine Spur. Ich suchte weitere Minuten, sah prüfend in jedes Gesicht. Ohne Erfolg. Schließlich betrat ich das Mozarthaus, klapperte jedes Zimmer des dreistöckigen Museums ab, ohne Anna zu entdecken. Nachdem ich die Tour durch das Haus noch einmal wiederholt hatte, fand ich mich damit ab, dass sie den Treffpunkt bereits wieder verlassen hatte.
Kann’s ihr kaum übel nehmen , dachte ich und verfluchte stumm die alte Schweizerin, die die Verspätung verursacht hatte.
So gering die Hoffnung auch war, für den Fall, dass Anna später noch einmal auftauchen würde, bezog ich in einiger Entfernung des Hauses Stellung und beobachtete die Passanten. Nach einer Stunde gab ich auf.
Anna hatte mir eine Chance gegeben. Ich hatte sie vermasselt.
Schließlich nahm ich meinen Gitarrenkasten, verfluchte meinen Entschluss, den Schnellzug zu nehmen, und ging langsam in Richtung Stadtzentrum. Warum war ich nicht mit dem Bummelzug um fünf Uhr dreißig oder sogar einen Zug am Abend gefahren? Ich fragte mich, wie sie reagiert hatte, als ich nicht wie verabredet aufgetaucht war. Hatte sie mich gesucht, ängstlich nach mir Ausschau gehalten und gehofft, der nächste braunhaarige Typ wäre ich? War sie wütend? Oder war es ihr gleichgültig? War sie zumindest ein bisschen enttäuscht? Oder erging es ihr wie mir? Brach es ihr das Herz? War sie krank bei dem Gedanken, was hätte sein können?
Was sie auch immer dachte oder fühlte, es erschien unwahrscheinlich, dass ich es je erfahren würde.
5
ICH KANNTE SALZBURG von einem früheren Besuch her, war jedoch nicht in der Stimmung für eine erneute Stadtbesichtigung. Jedenfalls nicht ohne Anna.
Nachdem ich kurz in einem Imbisslokal eine Kleinigkeit gegessen hatte, beschloss ich, in der Zeit bis zur Rückfahrt nach Wien Geld zu verdienen. Karl war gestimmt. Ich öffnete den Gitarrenkasten unter dem alten Pferdebrunnen, eine berühmte Statue mit Brunnen mitten auf dem Residenzplatz, und begann zu spielen. Zuerst schienen die Salzburger Stacheldraht an den
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