Lieblingslied: Roman (German Edition)
höchstpersönlich erschossen. Einen nach dem anderen.‹ Seine Augen wurden schmal. Und sein hämischer Blick tat beinahe körperlich weh. ›Jetzt wissen Sie, was aus Karl geworden ist‹, sagte er leise. ›Damit Sie nie vergessen, dass sein Tod auf Ihr Konto geht. Wären Sie nicht geflohen, wären er und noch viele andere am Leben.‹ Er machte eine bedeutungsvolle Pause, damit ich meine Schuld in vollem Umfang erkennen sollte. ›Und jetzt, Spion‹, fuhr er fort, ›sollten Sie sich die Hände waschen. An ihnen klebt eine Menge Blut.‹
An jenem Abend bin ich mit Karls Gitarre ins Badezimmer im Gebäude der Lagerleitung gegangen.«
Großvater putzte sich die Nase, stand langsam auf und verharrte aufrecht an Annas Seite. »Danke, dass du dir das sentimentale Gebrabbel eines alten Mannes angehört hast«, seufzte er. »Ich entschuldige mich für meine Gefühlsausbrüche.« Er sah auf die Uhr. »Ich habe der Schwester im Stationszimmer versprochen, nur eine Stunde zu bleiben. Aber die Stunde ist schon lange um. Ist verdammt spät geworden, was? Ich sollte jetzt lieber gehen. Die Herrschaften zu Hause machen sich vermutlich schon Sorgen. Schlaf gut, Anna. Wir beten für dich. Und für deine Familie.«
Damit streckte er die Hand aus, berührte Annas verletzten Arm und beugte feierlich den Kopf, als verneige er sich vor ihr. Dann griff er nach seinem Stock und wandte sich zum Gehen.
Schlurf-schlurf-plopp. Schlurf-schlurf-plopp .
Ich presste die Augen fest zu. Wäre es im Raum heller gewesen, hätte er sicher die roten Flecken auf meinen Backen gesehen. Ohne ein Wort ging er an mir vorbei.
Er hatte bereits mehr als genug gesagt.
Schlurf-schlurf-plopp. Schlurf-schlurf-plopp.
Vierte Strophe
?
Solo, Lento Grave
19
UM VIERTEL VOR NEUN betrat eine fröhlich pfeifende Krankenschwester das Zimmer, um Annas Werte zu überprüfen. Ich lag noch immer zusammengekauert auf dem Liegesessel und war sicher, dass sie mich nicht bemerkte. Schließlich entdeckte sie einigermaßen verwirrt den Holzkasten auf dem Fußboden neben dem Bett. Sie hob ihn auf, betrachtete ihn kurz prüfend, stellte ihn auf den kleinen Tisch in der Ecke mir gegenüber und wandte sich dann Anna zu.
»Guten Morgen, Sonnenschein«, begann sie. »Geht’s Ihnen heute besser?«
Sollte das ein Witz sein? Tickten Krankenschwestern so? Fragte man Sterbende, ob es ihnen besser gehe? Ich jedenfalls fand die Frage sowie die Demonstration guter Laune äußerst unangebracht. Aber vielleicht waren daran nur Schlafmangel und seelische Erschöpfung schuld. »Sie kann Sie doch gar nicht hören«, entfuhr es mir unwillkürlich.
Die Ärmste zuckte zusammen, sprang vor Schreck fast aus ihren weißen Clogs. »Oh, Mr. Bright! Verzeihen Sie bitte! Ich hatte Sie gar nicht bemerkt!«
»Ist schon in Ordnung.«
Die Schwester runzelte die Stirn. »Sie sehen ja furchtbar aus.«
Zumindest war sie ehrlich. »Danke für das Kompliment. Ich schlafe in letzter Zeit ziemlich schlecht«, entgegnete ich sarkastisch.
Sie senkte die Stimme. »Verzeihen Sie. Ich werde ganz leise sein. Versuchen Sie, weiter zu schlafen. Ich muss nur schnell Blutdruck und Temperatur bei Ihrer Frau messen. Dauert nur ein paar Minuten.«
Ich bedankte mich für ihre Rücksichtnahme, schloss die Augen, bezweifelte jedoch, dass ich wieder einschlafen konnte. Großvaters Kriegsbericht ging mir schon wieder durch den Kopf. Mit Schaudern dachte ich an den grausamen Tod der Zwillingsmädchen Richter, sah vor meinem geistigen Auge, wie ein eiskalter Wachmann einen Häftling mit vorgehaltener Pistole von der Felskante springen ließ. Ich öffnete die Augen nur einen Spaltbreit, betrachtete Annas leblose Gestalt in ihrem Krankenhausbett und versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, von einem großen Geländewagen überrollt zu werden. Hatte Anna überhaupt etwas gespürt? Hatte sie nur kurz gelitten? Oder hatte sie den Wagen auf sich zukommen gesehen und Todesangst ausgestanden?
»Warum ist die Welt so grausam?«, entfuhr es mir wie aus heiterem Himmel.
Die Krankenschwester zuckte erneut zusammen. »Bin ich zu laut?«
»Nein, ganz und gar nicht. Ich habe nur laut gedacht.«
»Und ich dachte, Sie seien wieder eingeschlafen.«
»Ich kann nicht schlafen. Anna schläft schon genug für uns beide.« Diesmal kam der dumme Spruch von mir. Galgenhumor?
Die Schwester runzelte erneut die Stirn. »Sie wissen, dass Ihre Frau nicht wirklich …«
»Schläft?«, ergänzte ich. »Ja, hat man mir gesagt. Aber das
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