Lieblingsstücke
seit Jahren nur auf eine Person fixiert. Auf meine Mutter. Das wird ihm jetzt zum Verhängnis. Obwohl er daran eindeutig eine Mitschuld trägt, tut er mir leid.
»Soll ich jemanden für dich anrufen?«, biete ich freundlich an.
»Um allen zu erzählen, dass man mir bei vollem Bewusstsein die Eier abgeschnitten und mir Hörner aufgesetzt hat?«, wird er patzig, und ich bin aufs Neue sehr überrascht über die Ausdrucksweise meines Vaters. Geht es ihm vielleicht weniger um die Tatsache an sich, sondern mehr um den vermeintlichen Ehrverlust? Sieht ganz danach aus.
»Das renkt sich doch bestimmt wieder ein, Papa. Ihr seid schon so lange verheiratet, da kann das doch mal passieren«, probiere ich die Vertragt-euch-Variante von Birgit.
»Das verzeih ich der nie«, erstickt mein Vater jegliche Harmoniegedanken im Keim. »Und wenn sie angekrochen kommt – niemals.«
Das klingt nicht nach Happyend, sondern eher so, als müssten sich meine Kinder die nächsten Jahre ein Zimmer teilen.
»Papa, du musst dich erst einmal beruhigen. Das war bestimmt nur ein Ausrutscher. So was kann doch jedem passieren.«
Schade, dass meine Mutter mich nicht hören kann. Wie ich mich für die in die Bresche werfe, obwohl ich mir nicht mal sicher bin, ob sie das Gleiche für mich tun würde. Meine Mutter hat sich bei kleineren Streitereien schon häufiger auf Christophs Seite geschlagen. Was mich jedes Mal sehr gekränkt hat.
»Blut ist dicker als Wasser, du bist meine Mutter, du musst zu mir halten, das ist ein Naturgesetz«, habe ich ihr einmal vorgehalten, aber sie war reichlich ungerührt.
»Ich halte zu dem, der recht hat«, hat sie damals entgegnet, und schon deshalb finde ich mein heutiges Verhalten extrem selbstlos und sehr erwachsen. Gerade so, als wäre ich die Mutter.
»Ich gehe dann mal hoch«, teilt mir mein Vater mit, und ich zeige ihm »sein« Zimmer. Wirklich begeistert sieht er nicht aus. Er guckt gerade so, als hätte er unser Haus vorher noch nie gesehen und erwartet, dass hier oben großzügige Gemächer zur Verfügung stehen. Er beäugt das Hochbett und knottert »Ich bin doch kein Affe«, fügt sich
dann aber doch in sein Schicksal. Zum Glück. Denn bei aller Vaterliebe, mein Schlafzimmer gehört mir, und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Christoph begeistert wäre, wenn er meinen Vater in unserem Bett vorfinden würde. Kluge Menschen – und mein Vater ist durchaus ein kluger Mensch, jedenfalls bisher gewesen – merken, wenn sie keine andere Wahl haben. Er zieht sich seine Schuhe aus und krabbelt direkt hoch in sein neues Domizil. Sieht tatsächlich reichlich komisch aus. Ein bisschen wie beim Bund. In voller Montur im Bett. So, als müsse er jederzeit einsatzbereit sein.
»Andrea, ich ruhe mich jetzt aus. Ich schlafe ein bisschen«, verweist er mich freundlich, aber bestimmt des Raumes.
Perfekt, denn es ist gleich zehn, und spätestens in einer halben Stunde stehen die ersten Kunden vor meiner Tür. Außerdem will ich schnell Stefan und eventuell, falls ich den Mut aufbringe, auch noch meine Mutter anrufen.
Dass mein Vater sich wie ein verängstigtes Tierjunges in eine Höhle zurückzieht, um in aller Ruhe seine Blessuren zu lecken, kann ich sehr gut verstehen. Dieses Verhalten habe ich anscheinend von ihm geerbt. Wenn das Grauen über einem zusammenschlägt – Augen zu und erst einmal eine Runde schlafen. Danach ist das Grauen zwar nicht weg, aber man hat es immerhin eine Weile nicht gesehen. Viele halten das für grundfalsch und nennen es Verdrängung, aber ich finde, wenn es hilft, dann sollte man es ruhig so machen.
Ich haste die Treppe nach unten und schnappe mir das Telefon. Als Erstes versuche ich, meinen Bruder zu erreichen. Dann kann der sich ja mit Birgit in Verbindung setzen, ich sehe nämlich nicht ein, warum ich sie jetzt anrufen
soll. Die kann ja selbst anrufen, wenn sie was wissen will. Scheint ihr aber relativ egal zu sein. Dann ist es mir auch egal, was sie dazu zu sagen hat. Auf Stefans Handy erreiche ich nur die Mailbox. Und auf dem Festnetz den Anrufbeantworter. Ich hinterlasse auf beiden Nachrichten.
»Melde dich. Es geht um Papa. Und Mama. Es ist wichtig.« Mehr Information muss nicht sein. Erstens wird es seine Neugier wecken und zweitens geht es seine Mitbewohner ja nichts an, wenn meine Mutter fremdgeht. Wenn die zwei sich tatsächlich wieder versöhnen sollten, muss mein Vater dann ja nicht für jeden der Mann sein, der von seiner Frau betrogen wurde. So was spricht sich
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