Lieblingsstücke
Schminke«, ist ihr Kommentar. »Sind das Smokey Eyes?«, will sie noch wissen. Erstaunlich, welches Fachwissen heutzutage Zwölfjährige haben. Mathe – Vier, Lidschattenkunde – Eins.
Claudia hat Glück. Ich höre die Haustür aufgehen und schnappe mir, bevor ich das Zimmer verlasse, noch schnell die
Bravo
.
»Die ist erst mal konfisziert!«, teile ich ihr nur mit. Man soll nicht alles mit den Kindern ausdiskutieren. Selbstverständlich weiß ich, dass der Besitz der
Bravo
und das Lesen der Zeitschrift nichts wirklich Schlimmes ist. Andere Kinder in diesem Alter überfallen Mitschüler, erpressen Schutzgelder, dealen oder rauchen zumindest. Im Vergleich dazu ist
Bravo
-Lesen geradezu lächerlich brav. Aber es reicht, dass ich das weiß.
Erst Viertel vor sechs – und Christoph ist schon zu Hause. Da sieht man mal, was möglich ist, wenn ihm ein
Termin wichtig ist. Diese Erkenntnis führt dazu, dass ich mich, statt erfreut zu sein, direkt ärgere. Warum geht das sonst nicht?
»Hallo Schatz«, lautet seine Begrüßung, und er zieht mich an sich, um mich zu küssen.
»Halt«, sage ich nur. Dieses kunstvolle Werk in meinem Gesicht verträgt höchstens gehauchte Wangenküsse. Er schaut mich an. »Und?«, frage ich nur.
»Wow«, murmelt er. »Wow, du siehst so anders aus. So, so damenhaft.«
Damenhaft kann viel sein. Es könnte elegant heißen oder im schlechtesten Fall muttimäßig. Trutschig. Ältlich. Ich wähle die beste Variante: elegant.
»Gefalle ich dir?«, hake ich nach.
»Deine Augen sind so düster«, sagt er nur.
»Das sind Smokey Eyes. Das hat man jetzt«, gebe ich ihm ein wenig Make-up-Nachhilfe.
»Ungewohnt, aber nicht schlecht«, ist sein Resümee.
»Aber du riechst komisch. Ist das ein neues Parfüm? Und was ist mit deinen Armen, die sind so gelb?«
Bevor ich antworten kann, klingelt das Telefon.
»Papa, gehst du mal ran!«, rufe ich ins Wohnzimmer, wo mein Vater mittlerweile mit der Couch verschmolzen sein muss.
Christoph schicke ich zum Anziehen nach oben.
»Mach dich schon mal fertig. In einer halben Stunde sollten wir los. Deinen Smoking habe ich aufs Bett gelegt. Die Fliege ist im Schrank und die Schuhe sind hier unten und das Gelbe an meinem Arm ist Braun. Das liegt nur am Licht.«
Er guckt mich leicht erstaunt an, geht aber brav nach oben.
»Moment mal, Herr Lümmert«, höre ich meinen Vater sagen.
Lümmert, Lümmert. Oh, Hilfe. Das ist doch dieser dubiose aufdringliche Kerl, der mich bei eBay ständig mit Mails zuschüttet. Ich mache Handzeichen, schüttle den Kopf und versuche meinem Vater auf allen erdenklichen Wegen zu signalisieren, dass ich auf keinen Fall mit Herrn Lümmert sprechen will.
»Nächste Woche«, zische ich meinem Vater zu. »Bin verreist bis nächste Woche.«
»Meine Tochter ist unterwegs. Die kommt erst nächste Woche wieder.« Uff. Wenigstens noch ein Wochenende Luft. Am Montag muss ich mit Christoph sprechen. Steuergeschichten werden ja mittlerweile sogar mit Gefängnis geahndet. Sollte ich mich vielleicht, wie diese Liechtenstein-Stiftungsfuzzis, besser selbst anzeigen?
»Ja, ich gebe ihr die Nummer«, höre ich meinen Vater sagen, dann legt er mit einem freundlichen »Wiederhören« auf.
»Was ist denn das für ein Geselle?«, will er sofort wissen. »Was will der denn von dir? Und, Andrea, warum willst du nicht mit ihm sprechen?«
»Zu viele Fragen, Papa. Ich kann jetzt nicht, aber wenn der nochmal anruft, ich bin auf gar keinen Fall zu erreichen. Ganz weit weg. Nicht zu sprechen.«
Mein Vater schüttelt den Kopf. »Das klingt nicht gut, Andrea. Ich will mich ja nicht in deine Privatsachen einmischen, aber denk dran, Andrea, wie hat der Wilhelm Busch so schön geschrieben: ›Oh, hüte dich vor allem Bösen! Es macht Pläsier, wenn man es ist, es macht Verdruss, wenn man’s gewesen.‹ Ich lege dir die Nummer hier hin.«
Ich habe jetzt keine Lust, meinem Vater das ganze Ausmaß meines Steuerdilemmas zu schildern. Nicht nur, weil ich keine Zeit habe, sondern auch, weil ich mich damit jetzt nicht beschäftigen will. Soll er doch denken, was er will.
»Ich erkläre dir das am Wochenende. Der Christoph und ich müssen los. Essen für die Kinder und dich ist im Gefrierschrank. Unten im Keller. Pizza.«
Als ich Keller sage, fällt mir ein, dass mein Sohn seit Stunden dort unten ist. »Papa, hast du mal nach Mark gesehen?«, frage ich.
»Ne, wieso auch. Der spielt doch. Die waren nur einmal hier oben, die kleinen Racker, und haben was zu trinken
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