Lieblingsstücke
Kunden? Sollte ich mit Annabelle in die Klinik fahren? Einen Notarzt rufen, oder kann ich einem, mehr oder weniger selbst ernannten, Rebirther vertrauen?
»Annabelle, geht es dir besser?«, frage ich meine Freundin und versuche, ganz ruhig und gefasst zu klingen. Sie lässt die Tüte sinken und sagt: »Ja, ich glaube, ja.«
»Willst du ins Krankenhaus oder so?«
»Nee«, sagt sie, »aber ich will gehen.«
Welch ein weiser Entschluss. Mir reicht es für heute auch. Ken will uns noch auf einen Tee einladen, meint, ich solle, weil ich so ein Atemtalent sei, unbedingt wiederkommen, aber Annabelle schnauft noch ziemlich, und ich glaube, für heute langt es sogar ihr. Ken schenkt ihr die Plastiktüte für die Heimfahrt. Schon im Treppenhaus hält sich Annabelle wieder die Tüte vors Gesicht. Sie hechelt ziemlich. Das klingt gar nicht gut. Überhaupt nicht gut. Kaum sind wir auf der Straße, sinkt sie aufs Trottoir. Die Plastiktüte vors Gesicht gepresst. So können wir auf keinen Fall nach Hause fahren. Vor allem sie kann nicht fahren.
»Gib mir den Autoschlüssel, ich fahr dich ins Krankenhaus«, übernehme ich jetzt das Kommando.
Mittlerweile sind schon die ersten Passanten stehen geblieben. Ein pickeliger Teenager, dessen Hosen fast an den Knien hängen, stößt seine Freundin an und sagt ungeniert: »Guck mal, jetzt schnüffeln die hier schon Klebstoff.«
Leider fehlen mir die Zeit und die Muße, um dem Kerl eine zu knallen. Ich sage mit fester Stimme: »Zieh Leine, wir geben nichts ab.«
Er schaut mich erstaunt an. Hat der gedacht, ich könnte nicht sprechen? Ich packe Annabelle unter den Achseln und zerre sie zum Auto. Der Junge ruft mir noch: »Reg dich ab Alte«, hinterher und brüllt dann noch: »Die ist ja voll fertig.« Reizende junge Menschen. Und so hilfsbereit.
Im Auto entspannt sich Annabelle ein bisschen, obwohl ich am Steuer sitze. Sie hat es nicht gern, wenn jemand anderes ihr Auto fährt, aber selbst ihr scheint klar zu sein, dass sie, mit der Tüte vor dem Gesicht, nicht hundertprozentig straßenverkehrstauglich ist.
»Fahr mich heim«, schnauft sie zwischen ihren hektischen Atemstößen.
»Nein«, sage ich. Schließlich bin ich eine Mutter und weiß, wann man streng sein sollte. »Annabelle, das geht nicht von zwei Kügelchen weg. Da sollte mal jemand gucken, der was davon versteht.« Ich glaube, meine Stimme macht deutlich, dass es keinen Verhandlungsspielraum gibt.
»Na gut«, sagt sie nur, »ich krieg so schlecht Luft.«
Noch nicht mal ein Kommentar wegen der Kügelchen. Annabelle ist ein Globuli-Freak. Sie nimmt Globuli und Bachblüten für fast alles.
»Atme in die Tüte, Annabelle, immer in die Tüte.«
Ich bekomme es langsam mit der Angst zu tun, weiß aber natürlich, dass ich das auf keinen Fall zeigen darf. Ich steuere die Uni-Klinik an. Von Alt-Sachsenhausen bis zur Klinik sind es nicht mal zehn Minuten. Aber mit der schnaubenden Annabelle an meiner Seite kommt es mir erheblich länger vor. Unterwegs versuche ich, zu Hause anzurufen, werde aber von Annabelle daran gehindert.
»Nicht beim Fahren«, hechelt sie mich an. Da ich sie nicht noch mehr aufregen will, verschiebe ich den Anruf auf später. In einer Stunde muss ich spätestens zu Hause sein. Eine gute halbe Stunde braucht man von der Uni-Klinik um diese Zeit allerdings mindestens. Ich hoffe, die Ärzte können das hier schnell regeln.
Wir gehen zur Notaufnahme und geben mit Sicherheit ein schrilles Bild ab. Zwei Frauen und davon die eine mit Plastiktüte vor Nase und Mund. Immer wieder versucht Annabelle, die Tüte runterzunehmen, fängt aber dann sofort wieder an, hektisch zu atmen. In der Notaufnahme geht nichts ohne Aufnahmeprozedur. Ich weiß nicht, wie
schwer verletzt man sein muss, um diese Ausfüllarien zu umgehen. Hyperventilieren langt jedenfalls nicht. Wahrscheinlich muss mindestens ein Körperteil abgetrennt sein. Während ich Fragen zu Annabelles Person beantworte, wird sie erstversorgt. Eine Schwester hat sie mitgenommen und in den Behandlungsraum geführt. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich theoretisch spätestens jetzt losfahren müsste, um rechtzeitig zu Hause zu sein. Ich verdrücke mich in eine Ecke und versuche zu telefonieren, was im Krankenhaus ja nicht besonders gerne gesehen wird. Mark geht ans Telefon.
»Hör mal«, frage ich, »ist der Papa schon da?«
»Nein«, sagt mein äußerst gesprächiger Sohn.
»Und der Opa, ist der da?«, will ich wissen.
Wieder ein knappes: »Nein.« Wo um
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