Lieblingsstücke
streng.
Natürlich hat er im Prinzip recht – einerseits. Andererseits weiß ich, wie sauer ich wäre, wenn Christoph mir was versprochen hätte und es dann nicht halten würde.
»Ich kann ja schnell fahren, und dann komme ich zurück und hole Annabelle ab!«, kommt mir da eine glorreiche Idee. So wie die da vor sich hindämmert, sieht sie nicht aus, als bräuchte sie dabei unbedingt Gesellschaft. Mittlerweile bin ich schon knapp zwanzig Minuten zu spät. Aber zum Glück neigt Christoph nicht zur Zu-spätkomm-Panik, also könnte ich es gerade noch schaffen.
»Fahr ruhig«, stammelt Annabelle von der Liege aus. »Lass mich ruhig hier. Ist schön hier.« Die scheint aber ziemlich abgeschossen. Mein lieber Scholli.
Mett-Mischi zieht die Augenbrauen hoch, nickt aber dann gnädig und sagt: »Von mir aus. Wenn du meinst. Fahr halt.« Jetzt kann mich keiner mehr halten. Ich drücke Annabelle einen Schmatzer auf die Wange, streiche ihr über den Kopf und verspreche, sie ganz bald abzuholen.
Als ich fast aus dem Zimmer raus bin, hebt sie ihren Kopf und brabbelt: »Mein Auto, mein Auto.«
»Ich passe gut auf. Bis gleich«, sage ich und bin weg. Was ihr Auto angeht, ist Annabelle wirklich ein wenig speziell. Passt eigentlich gar nicht zu ihrer sonstigen Einstellung.
Ein bisschen schlechtes Gewissen habe ich, dass ich Annabelle da alleine liegen lasse. Aber erstens war das mit dem Rebirthing ja ihre Idee und zweitens liegt sie ja nicht blutend in der Gosse, sondern unter Aufsicht und Valium im Krankenhaus. Mett-Mischi wird es schon richten, und nachher hole ich sie ja ab. Und wenn das Valium ordentlich wirkt, vergisst sie vielleicht sogar, dass ich gar nicht die ganze Zeit an ihrer Seite war. Ein Gutes hat die Sache wenigstens: In nächster Zeit wird mich Annabelle sicher mit weiteren Seminarvorschlägen verschonen. Obwohl ich sagen muss, dass mir das Rebirthing bis auf den Hyperventilierzwischenfall schon besser gefallen hat als das Channeling. Wahrscheinlich vor allem, weil diesmal nicht ich diejenige war, die unangenehm aufgefallen ist. Das ist doch mal ein Fortschritt.
Als ich im Auto mein Handy wieder einschalte habe ich drei verpasste Anrufe. Ich höre meine Mailbox ab. Wie erwartet, ist es Christoph.
»Wo steckst du denn?«, lautet sein erster Anruf. »Ich warte hier, melde dich.«
»Bist du schon wiedergeboren oder noch im Uterus?«, der zweite. Und der dritte ist im Tonfall schon merklich kühler. »Andrea, Verlässlichkeit ist was anderes. Und was hat Mark da eben zu mir gesagt? Du musst Schluss machen? Wie soll ich das verstehen? Willst du mich loswerden oder was? Wenn du nicht bald hier bist, muss ich alleine losfahren. Bitte sehr, jeder setzt seine Prioritäten.«
Oh, da ist einer aber beleidigt. Und was hat Mark da wieder verstanden? Ich habe doch nur gesagt, ich muss
Schluss machen mit dem Telefonieren. Was hat der da bloß erzählt? Ich wäre über solche Nachrichten auch nicht erfreut und kann Christoph sogar ein bisschen verstehen. Missverständnisse kann man aufklären, wir sind erwachsen, rede ich mir selbst gut zu und wähle unsere Nummer. Ein wenig ärgere ich mich allerdings schon. Ich meine, Mark ist ein Kind. Da dürfte Christoph doch klar sein, dass seine Aussagen möglicherweise nicht hundertprozentig zuverlässig sind. Ich mag wankelmütig sein, aber ich sage doch nicht morgens, dass ich ihn zum Flughafen fahre, und mache abends dann plötzlich mit ihm Schluss. Ich unterliege durchaus Stimmungsschwankungen, bin aber doch nicht vollkommen gaga. Es geht niemand ans Telefon. Ich probiere es auf Christophs Handy. Auch nichts. Dazu ein klitzekleiner Stau an der Autobahnausfahrt. Ich könnte verrückt werden. Um runterzukommen, übe ich meine neuen Hauptstädte. Schon bei Aserbaidschan habe ich den ersten Hänger. Die Hauptstadt will mir einfach nicht einfallen. Mein Gedächtnis streikt. So was macht mich rasend. Eben gelernt – schon wieder vergessen.
Ich rufe die Auskunft an und frage nach Aserbaidschan. Die Frau am Telefon sagt nur: »Woher soll ich das denn wissen? Bin ich Ihr Telefonjoker oder was?« Ich erspare mir jeden Kommentar. Auch den Hinweis auf die Werbung, wo es doch heißt: »Wir helfen Ihnen weiter.« Oder jedenfalls so ähnlich. Leere Versprechungen. Wie so häufig. Als ich endlich in unsere Einfahrt biege, ist es Viertel vor acht. Fünfundvierzig Minuten Verspätung. Christophs Auto steht aber noch da. Ein gutes Zeichen.
Baku. Da fällt es mir ein. Noch ein gutes Zeichen.
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