Lieblose Legenden
sämtliche Möglichkeiten der Bewegung in sich
einschloß. Dieser Idee galt es nachzugehen.
Flüsternd verabschiedete er sich von
Bettina, die unter den ausgestellten Damen war, und reiste ab, um in einer
neuen Umgebung sich seiner neuen Aufgabe zu widmen.
Es ist Nachsaison. In der halbleeren
Halle des großen Hotels herrscht besonnte Schläfrigkeit. Hier und dort klirrt
der Mokkalöffel leise durch das Geräusch müder Nach-Tischgespräche. Da löst
sich aus einer Gästegruppe eine Dame in trägerlosem Sommerkleid und schreitet
zum Klavier.
Die Dame heißt Hedwig Wiesendanck , ist Berufspianistin der mittelmäßigen
Begabungsklasse, jedoch Besitzerin fester künstlerischer Prinzipien, die es ihr
an sich nicht gestatten, ihre Kunst dem zweifelhaften Publikum schweizerischer
Erholungsorte preiszugeben, so wohl ihr auch die dauernde Nötigung einiger
seiner Mitglieder bisher getan hat. Heute jedoch gibt sie nach gebührendem
Zögern dieser Nötigung nach, denn sie weiß einen gewaltigen Mann in der Halle,
einen großen Zunichtemacher aller Grundsätze:
Hernando Rosenbarth , den internationalen Impresario,
der schon öfters, einer jovialen Laune nachgehend, eine wackere Interpretin aus
der Anonymität der lokalen Wohltätigkeitsveranstaltung ins Licht der
Schlagzeilen erhoben hat. Hedwig Wiesendanck öffnet
das Klavier. Das Gespräch verstummt, der Mokkalöffel legt sich auf das Untertäßchen.
Hedwig spielt zunächst einige Paraphrasen eigener Prägung, die dem zaghaften — und
leider eben vergeblichen — Beweis dienen, daß auch der Interpret manches
Schöpferische in sich trage. Sie sind streng tonal, ja geradezu klassisch, aber
doch so phantasiebegabt, daß die Gäste einander bedeutungsvoll zunicken, was so
viel heißt wie: Sieh an! Sie hat’s in sich!
Dann spielt sie Chopin, wobei sie, der
mimischen Überlieferung gemäß, das Rubato mit innigem
Kopfschütteln unterstreicht. Ein paar Gäste verlassen die Halle auf
Zehenspitzen, gefolgt von mitleidigen oder ärgerlichen Blicken anderer:
Banausen!
Unter gewöhnlichen Umständen hätte auch
Rudolf die Halle verlassen; nicht etwa weil er die Musik nicht liebt, sondern
weil er sie nur gern hört, wenn es ihm behagt, und er sich seinen Interpreten
gern selbst aussucht. Aber heute bleibt er. Die Pianistin hat einen schönen
Rücken; das Spiel der Muskeln und Schulterblätter fasziniert ihn. Als sie
geendet hat, geht er auf sie zu; die Blicke derer, die ihn erkannt haben,
begleiten ihn. »Mademoiselle — Sie haben einen schönen Rücken«, sagt er, denn
er kann es sich leisten, Umschweife zu übergehen. Hedwig errötet tief. Das
außergewöhnliche Kompliment kommt ihr unerwartet. Zudem weiß sie nicht, von wem
es kommt. Denn ausübende Musiker sind selten über anderes unterrichtet als über
das Wirken anderer ausübender Musiker, ihrer potentiellen Rivalen. Indessen,
bevor Hedwig Wiesendanck ihre Fassung wiedergewinnt,
hat Westcotte ihr sein Angebot gemacht, und bevor sie
ihm antworten kann, hat von der anderen Seite Hernando Rosenbarth ihr ebenfalls ein Angebot gemacht — wobei er freilich die Bedingung stellt, daß
sie Westcottes Vorschlag annehme.
Denn Rosenbarth hat Westcotte sofort erkannt, weiß, was er darstellt,
und kann seinen Wert in Zahlen ausdrücken. Und so sieht er bereits Hedwig Wiesendanck vor sich, in überfüllten Konzertsälen, den
bunten, beweglichen Rücken einem begeisterten Publikum zugewandt.
Am Morgen nach Hedwig Wiesendancks erstem Konzert war sich die Kunstwelt darüber
einig, daß Westcotte seinen Höhepunkt erreicht hatte.
Eine solche Verkettung visionärer Wucht mit der souveränen Abgeklärtheit
beinahe eines Alterswerkes konnte — wie es in den Rezensionen hieß — auch ein Westcotte selbst nicht mehr steigern. Die überlieferten
Feststellungen über Bedeutung und Qualität der dargebotenen Etüden, Mazurken und Sonaten wurden auf ein verschwindendes Maß
beschränkt, die Interpretation keiner Erwähnung gewürdigt.
Wenige Tage nach dem Konzert lud Hedwig
Rudolf zum Tee. Sie saßen in ihrem kleinen geschmackvollen sitting-room ,
zwischen Blattpflanzen, Franz-Marc-Reproduktionen und handgewebten
Kissenbezügen.
»Der Tee ist köstlich«, sagte Rudolf.
» Darjeeling «,
sagte Hedwig.
»Aber es ist noch etwas anderes dabei,
was ihm dieses besondere Aroma gibt .«
»Das«, sagte Hedwig, »ist Gift .«
Rudolf lehnte sich genießerisch zurück
und trank seine Tasse leer. Dann sagte er: »Ich habe meine
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