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Lieblose Legenden

Lieblose Legenden

Titel: Lieblose Legenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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eigentlich aus.
Wie es so oft im Leben ist, war es auch bei ihm: man sucht nach etwas und
vergißt während der Suche das Gesuchte.
    In einem der Momente aber, in welchen
er sich seiner ursprünglichen Absicht mit besonderer Klarheit erinnerte, fand
er das Geeignete. Er war eine völlig zerstörte Straße entlang gegangen, um sich
ein Haus zu besehen, dessen Adresse er von einer Agentur erhalten hatte. Als er
dorthin gelangte, sah er, daß es nicht mehr war als eine Ruine, ein Gerüst mit
einigen vertikalen Betonpfeilern und Stahlstützen, die aber nur noch in der
Mitte des ehemaligen Gebäudes ihre vollständige Länge hatten, und einigen
Querstreben, die diese Stützen zusammenhielten. Das Skelett war unvollständig,
das Fleisch fehlte ganz. Von einem Haus also, im eigentlichen Sinne, konnte
nicht die Rede sein. Martin rief den Agenten an, teilte ihm diesen Tatbestand
mit und fragte, ob da nicht ein Irrtum vorliege. Aber dieser sagte, ein Irrtum
liege nicht vor, es handle sich um die richtige Adresse; in diesem Falle
nämlich vermittle die Agentur nur den Luftraum, eine Wohnung müsse er sich
selbst ausbauen; der Mietpreis sei ja — wie er zugeben müsse — außerordentlich
niedrig. Martin gab es zu, und nachdem er sich die Angelegenheit gründlich
überlegt hatte, beschloß er, den Luftraum für die Dachwohnung zu mieten, und
zwar allen Zweifeln, die ein ihm bekannter Architekt äußerte, zum Trotz. Das
Gerüst sei nicht tragfähig, sagte dieser, das Wohnen auf solch ungenügenden
Fundamenten sei nicht sicher. Martin sagte, daß überhaupt nichts sicher sei.
Auf die Entgegnung, daß man aber innerhalb der allgemeinen Unsicherheit die
Möglichkeit habe, einem abwendbaren Unglücksfall vorzubeugen, antwortete Martin
nicht, denn die Meinung des Architekten interessierte ihn nicht.
    Um den Fußboden legen zu können, mußte
die Grundkonstruktion — soweit man etwas in der Luft Schwebendes als eine
solche bezeichnen kann — mit langen Balken vom Erdboden aus gestützt werden.
Dieser ungewöhnliche Anblick veranlaßte öfters Passanten stehenzubleiben und
ihr völliges Unverständnis in ihren Mienen und manchmal auch in Worten
auszudrücken. Sonst aber ging der Bau auf normale Weise vor sich. Das
Hinaufziehen der Materialien machte zwar anfangs Schwierigkeiten, aber sie
wurden bald durch den tüchtigen Baumeister behoben, der sich auf Aufträge
außerhalb des Alltäglichen zu verstehen schien. Die Wohnung wuchs, zuerst der
Fußboden, dann Wände und Zimmerdecken und zuletzt darüber das leicht
abgeschrägte Dach. Dann kamen Fenster und Türen. Die Wohnungstür führte ins
Freie, und man trat durch sie von der letzten Sprosse einer Strickleiter, so daß
man, umgekehrt, die Wohnung rückwärts verlassen mußte, um sofort einen festen
Fußhalt zu finden.
    Der erste einer Reihe von
Zwischenfällen ereignete sich, als der Möbeltransport kam. Als nämlich Martins
großer Schreibtisch am Seil hing, geriet dieses in Schwingung und schlug gegen
eine der Stahlstützen. Der Schreibtisch, ein Erbstück zwar, aber ein
zweckdienliches Möbel, blieb unversehrt, nicht aber die Stütze, die wie eine
Zuckerstange zersplitterte. Die anwesenden Arbeiter und Passanten schauten
gebannt zur Wohnung hinauf. Man erwartete wohl, daß sie, wie eine reife Frucht,
vom Gerüst falle, aber nichts dergleichen geschah. Die Wohnung bewegte sich
nicht. Der Schreibtisch wurde hinaufgezogen, durch das Fenster in die Wohnung
gehoben, und das Verladen der weiteren Möbel verlief ereignislos.
    Martin selbst war einen Moment lang
erschrocken, hatte aber seine Fassung bewahrt und behauptete auch nachher
Leuten gegenüber, die ihn mit dem Satz: »Na, das ist ja noch mal gut gegangen«
beglückwünschten, er habe nie daran gezweifelt, daß seine Wohnung den Verlust
einer Stütze aushalten werde.
    Das nächste, zwar weniger bedenkliche,
aber doch gleichartige Ereignis nahm er allerdings schon mit wirklicher
Gelassenheit hin. Bei dieser Gelegenheit kam ein junges Ehepaar, um — wie sie
sich ausdrückten — ihn in seiner neuen Behausung aufzusuchen. Sie wollten
vorher einige photographische Aufnahmen machen, zu welchem Zweck die Frau in
ungezwungener Pose oben auf der Strickleiter stehen sollte. Als aber alles
bereit war und der Mann sich an eine Stahlstütze lehnte, um den Apparat ruhiger
halten zu können, fielen aus den oberen Querstreben einige harte Betonbrocken
heraus, die ihm beinahe die Kamera aus der Hand gerissen hätten. Über diesen
Vorfall war er

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