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Lieblose Legenden

Lieblose Legenden

Titel: Lieblose Legenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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Laden
ist selbstverständlich nachts geschlossen, Stammkunden bedienen sich einer
versteckten Nachtglocke. Ich läutete und stand bald darauf zwischen
tuchbedeckten Käfigen in der nächtlich-trüben Vogelhandlung. Der Händler fragte
mich, was es sein dürfe.
    »Eine Eule, bitte«, sagte ich.
    »Aha«, sagte er und zwinkerte mit den
Augen, als behage ihm die gewiegte Kennerschaft seines Gegenübers; »Sie sind
ein Kenner. Die meisten Kunden machen den Fehler, sich ihre Eulen bei
Tageslicht auszusuchen. — Soll sie ein Geschenk sein ?«
    »Nein. Sie ist für mich. Ich möchte sie
nach Athen tragen .«
    »Nach Athen — aha!« Der Vogelhändler
führte Daumen und Zeigefinger langsam über sein Kinn, daß die Stoppeln
knirschten, und sagte: »Da würde ich Ihnen zu einem Steinkauz raten. Ich
fürchte, Waldohr- oder Schleiereulen sind den Strapazen einer längeren Reise
nicht gewachsen. Ein Steinkauz dagegen ist zäh und hat übrigens auch ein
handlicheres Format .« — »Einen Kauz nach Athen tragen
— ?« sagte ich langsam, mit stillem Zweifel diese
Vorstellung prüfend. Schon allein der Rhythmus sagte mir nicht zu.
    »Dieselbe Familie«, meinte der Händler.
Ich schwieg. »Nachtraubvögel«, fügte er hinzu, von der Beharrlichkeit meines
Schweigens angestachelt. Offensichtlich war ihm das Wesen meiner Bedenken
unbekannt.
    Vielleicht wird mancher Leser ein
ähnliches Dilemma schon erfahren haben und daher meine Zweifel verstehen.
Jedenfalls — ich will es gestehen — siegte praktische Vernunft über philologische
Deutelei: ich kaufte den Kauz. Die allzu pedantische Widerlegung einer den
Gipfel des Absurden darstellenden antiken Zumutung schien es nicht wert zu
sein, die Gefahr einer kurz vor dem Ziel verendenden Eule auf sich zu nehmen.
Vor allem aber wollte ich die Eulenseele nicht vergewaltigen, indem ich ihren
Träger zum Opfer seiner klassischen Assoziation machte. Der Mensch weiß, daß
ihn Gott nach seinem Ebenbild geschaffen hat, und er trägt mitunter schwer an
dieser Bürde. Dem Tier indessen sind Gleichnis und Vergleich fremd, und meiner
Meinung nach gewinnt seine animalische Würde aus eben der Tatsache, daß es noch
nicht einmal die einfältigste Fabel über sich selbst
kennt. Entlang dieser Bahn liefen meine Überlegungen, als ich mit dem Kauz im
Messingkäfig und einem großen Paket mit Brenzels Eulenfutter beladen, durch die stillen Straßen nach Hause ging. Denn die
Gedanken über Wesen und Sein, über Mensch und Tier, kommen mir nur — wenn
überhaupt — innerhalb dieser dunklen, ahnungsschwangeren Zeitgrenze zwischen
Nacht und Morgen, zu welcher Stunde selbst ein Steinkauz über seine irdische
Gestalt hinauswächst. Ich trug sozusagen ein Symbol im Käfig: das Tier
schlechthin.
    Andrerseits verursachte mir mein
philologisches Verantwortungsbewußtsein ein ungutes Gefühl, dem zu entwischen
ich mich vergeblich bemühte. Es war und blieb ein Kauz, was ich da im Käfig
trug, ein Vogel also, der ganz und gar andere Gedankenbilder hervorruft als
eine Eule. Mochten ihn auch alle Nicht-Zoologen für eine Eule halten: ich würde
bis an mein Lebensende wissen, daß ich einen Steinkauz nach Athen getragen
hätte. Im Morgengrauen besah ich den schlafenden Vogel, der von meinen Bedenken
und von seiner Legendenumwobenheit nichts wußte: ahnte das gute, harmlose Tier
ja noch nicht einmal, daß es ein Steinkauz und keine Eule war. Ich weiß nicht,
warum dieser letztere Gedanke mich rührte — vielleicht verspüre ich in diesen
Stunden zartere Regungen, die mich der Kreatur näher bringen — , jedenfalls
beschloß ich, komme, was da wolle, dieses Tier nach Athen zu tragen.
    Und mein Entschluß wurde belohnt. Ein
morgendlicher Blick in »Brehms Tierleben« belehrte mich, daß ich mit der Wahl
des Kauzes, wider besserem Wissen, das Rechte
getroffen hatte. Denn während die Schleiereule auf den zoologischen Namen » Strix flammea « hört, die
Waldohreule dagegen »Otis vulgaris « heißt (welch
letzteres Adjektiv übrigens das hübsche Tier meiner Überzeugung nach zu Unrecht
trägt) heißt der Steinkauz »Athene noctua «, und bei
Ansicht der Abbildung wurde mir nunmehr klar, daß dieser tatsächlich der Vogel
antiker Darstellung war. Hier hatte ich ihn, schwarz auf weiß, und ich durfte
sein lebendiges Ebenbild getrost nach Athen tragen.
    Wenige Tage später bestieg ich den
Orient-Expreß. Mein Abteilgefährte war ein Herr, dessen Aussehen den Gelehrten
verriet. Offensichtlich fuhr auch er nach Athen, wenn

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