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Lieblose Legenden

Lieblose Legenden

Titel: Lieblose Legenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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auch natürlich in anderer
Mission. Mit verhaltener Spannung sah er mir zu, während ich den Käfig im
Gepäcknetz verstaute, und noch als ich mich setzte und den Pausanias aus der Tasche zog, hing sein Blick an dem Vogel, der ruhig schlafend auf
seiner Stange saß. »Eine Eule«, bestätigte ich, ohne von meinem Buch
aufzusehen, in tiefer, von allen Zweifeln erlöster Seelenruhe.
    »Ein Kauz«, meinte er.
    »Wenn Sie so wollen«, sagte ich und sah
nun doch von meinem Buch auf. »Jedenfalls entspricht das Tier genau dem Zweck,
den ich verfolge .«
    »Beabsichtigen Sie etwa«, fragte der
Herr lauernd, »diesen Vogel nach Athen zu tragen ?«
    »Das ist in der Tat meine Absicht .«
    Jetzt lächelte der Herr. Er schob ein
Lesezeichen in sein Buch, klappte es zu, legte es beiseite und machte es sich
in seiner Ecke bequem, als bereite er sich auf die längere Erörterung eines
interessanten Streitpunktes vor.
    »Sie haben, junger Freund«, so hub er
an, »Ihren Aristophanes unaufmerksam gelesen oder falsch verstanden !« Hier setzte er zunächst einmal ab, als wolle er mich
vernichtet der Wahl zwischen diesen beiden Möglichkeiten überlassen. Aber ich
wählte nicht — die Anschuldigungen treffen nicht zu — , sondern entgegnete lässig, bevor er Gelegenheit hatte fortzufahren: »Ich weiß,
ich weiß. Es gilt als Inbegriff der Überflüssigkeit, Eulen nach Athen zu
tragen. Diese Auffassung ist mir bekannt. Dennoch bin ich, wie Sie sehen,
soeben dabei, eine solche nach Athen zu tragen .«
    »Einen Kauz, meinen Sie«, sagte der
Gelehrte etwas spitzig, wie mir schien, als nehme er mir die Abweichung von der
Konvention, den Vogel der Athene — sei er nun Kauz oder Eule — nach Athen zu
tragen, richtig übel. Lässig, mit der linken Hand, spielte ich den Trumpf aus:
»Athenes Eule war bekanntlich ein Steinkauz. Die Übersetzung des Wortes » glaukoopis « mit »eulenäugig« ist eine philologische
Ungenauigkeit, die auszumerzen ich mich berufen fühle .« Damit hatte ich ihn der Möglichkeit einer Entgegnung beraubt.
    Und so entgegnete mir der Herr denn
auch nichts mehr. Offensichtlich war er Philologe, und sein Anteil an der
übernommenen Schuld ließ ihn verstummen. Er nahm die Lektüre wieder auf und tat
von diesem Punkt an — wir passierten soeben den Bahnhof von Großhesselohe — als existiere der Kauz nicht. Mit keinem Worte mehr hat er ihn erwähnt,
keines Blickes mehr gewürdigt, und dafür wiederum muß ich ihm dankbar sein,
denn das Tier tat immerhin einiges, was rückblickend vielleicht nicht mehr
erwähnenswert ist, wohl aber in der Gegenwart von vielen Reisenden als störend,
wenn nicht gar als unpassend empfunden werden mag.
    Hier nun einige kurze Ratschläge für
solche, die, von meinem Beispiel angespornt, beschlossen haben, ihm zu folgen:
Eulen sind in der Liste der zollpflichtigen Gegenstände nicht enthalten, daher
man eventuellen Zahlungsforderungen von seiten der Beamten energisch
entgegentreten darf. Käfige dagegen sind zwar an sich zollpflichtig, aber nur
fabrikneue Stücke, und ein von einem Steinkauz bewohnter Käfig ist nach kurzer
Zeit nicht mehr neu. Trinkgelder sind empfehlenswert. Mit Verständnis von
seiten des ständig wechselnden Zugpersonals sollte nicht gerechnet werden: wer
also die Sprache und Gestikulationen der Durchgangsländer nicht beherrscht,
beraubt sich der Möglichkeit wirkungsvoller Verteidigung. Im ganzen — das sei
zugegeben — ist ein Eulentransport nach Athen mit kleineren Mühen verbunden,
aber ich wäre ein Lügner, wollte ich leugnen, daß er dieser Mühe wert ist. Wer
sich von Handlungen wie etwa »Holz in den Wald tragen« oder »Wasser in den
Brunnen gießen« eine ähnliche Genugtuung erhofft, der wird sich — so fürchte
ich — bitter getäuscht sehen. Gewiß: der Mangel an ideellem und materiellem
Aufwand solcher letzterwähnter Aktionen ist bestechend und verlockt zur
Durchführung; aber der geringe Vorteil ihrer Einfachheit wird bei der von mir
vollbrachten Tat durch die tiefe Befriedigung am Ziel reichlich wettgemacht.
    Denn als ich gegen Abend meines ersten
Tages in Athen mit meinem Eulenkäfig zur Akropolis hinanstieg, da überkam mich
das Gefühl inbrünstiger Zufriedenheit. Hier vollzog sich eine Handlung, die
nicht, wie so viele Experimente von heute, darauf angelegt war, die Thesen der
Erzieher und Weltverbesserer von gestern zu widerlegen, sondern die sie — im
Gegenteil — bestätigte. Ich war dabei, mich selbst zu überzeugen, wie müßig

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