Lieblose Legenden
es
wirklich war, Eulen nach Athen zu tragen; nicht etwa, weil es dort so viele
gibt — weder habe ich, noch hat irgendein mir bekannter Athener dort jemals
auch nur eine einzige Eule gesehen — nein: die Tat war müßig, weil Eulen dort,
wie letzten Endes auch bei uns, unbrauchbar sind. Mein Glücksgefühl wird daher
ein jeder verstehen, der, wie ich, am liebsten solchen Beschäftigungen
nachgeht, deren Konzeption bereits von vornherein verrät, daß sie zu nichts
führen können, deren Ausübung daher reiner, seliger Selbstzweck ist. Ich löste
meine Eintrittskarte, durchschritt die Propyläen und
stellte mich vor den Parthenon. Mit zitternden Fingern öffnete ich den Käfig.
Es war ein großer Moment. Die Eule hob sich in die Lüfte und flatterte empor,
zum Giebel des Tempels, wo sie zunächst sitzen blieb. Ein klassischer Anblick!
Gegen den blauen attischen Nachthimmel, der das Weiß des Marmors hervorhob und
ihn, gespenstisch schön, wie porösen Samt erscheinen ließ, hob sich mein
Steinkauz ab, Lebewesen und Symbol zugleich. Ich und kein anderer hatte ihn
nach Athen getragen!
»Siehst du, Selma«, hörte ich einen
Mann neben mir sagen, »die Bestätigung des klassischen Wortes, daß es unnötig
sei, Eulen nach Athen zu tragen? Sogar auf dem Parthenon sitzen sie .«
»Es ist ein Kauz«, erwiderte die Frau.
Der Mann schwieg, wahrscheinlich betreten. Auch er war wohl Humanist, und sein
Humanismus hatte sich bei ihm, wie es öfters geschieht, auf Kosten seiner
Zoologie gebildet. Indessen, dem Mann konnte geholfen werden. Ich wandte mich
den beiden zu, die ich unschwer als ein Paar auf der Hochzeitsreise erkannte,
und sprach: »Es ist ein Steinkauz: der wahre Vogel der Göttin Pallas Athene. Heute wissen das die meisten Menschen noch
nicht. Aber sie werden es bald wissen !« Mit dieser
zuversichtlichen Äußerung schritt ich davon, der Wirkung meiner Worte gewiß.
Ich hatte einem Hochzeitspaar zu einem vollkommeneren Bild antiker Wirklichkeit
verholfen, oder doch zumindest den Keim zu einer Korrektur gelegt.
Den Käfig verkaufte ich bei einem
Altmetallhändler und trat am nächsten Tag die Heimreise an. Ich bin ein
vielbeschäftigter Mann und muß meine Zeit genauestens einteilen.
Selbstdisziplin verbietet es mir, derartige Eskapaden vom Alltag beliebig
auszudehnen.
Wenige Wochen später traf auch der
Steinkauz wieder bei meinem Vogelhändler ein. Zahme Nachtraubvögel entwickeln
eine große Anhänglichkeit an ihre Besitzer; eine Eigenart, die durchaus zu den
zoologischen Merkwürdigkeiten zu zählen ist. Die Natur ist voller wunderbarer
Geheimnisse, und es bedarf oft nur des glücklichen Zufalls, ein kleines davon
zu ergründen.
Der hellgraue Frühjahrsmantel
Vor zwei Monaten — wir saßen gerade
beim Frühstück — kam ein Brief von meinem Vetter Eduard. Mein Vetter Eduard
hatte an einem Frühlingsabend vor zwölf Jahren das Haus verlassen, um, wie er
behauptete, einen Brief in den Kasten zu stecken, und war nicht zurückgekehrt.
Seitdem hatte niemand etwas von ihm gehört. Der Brief kam aus Sidney in Australien. Ich öffnete ihn und las:
Lieber Paul!
Könntest Du mir meinen hellgrauen
Frühjahrsmantel nachschicken? Ich kann ihn nämlich brauchen, da es hier oft
empfindlich kalt ist, vor allem nachts. In der linken Tasche ist ein
»Taschenbuch für Pilzsammler«. Das kannst Du herausnehmen und behalten. Eßbare
Pilze gibt es hier nämlich nicht. Im voraus vielen Dank.
Herzlichst Dein Eduard
Ich sagte zu meiner Frau: »Ich habe
einen Brief von meinem Vetter Eduard aus Australien bekommen .« Sie war gerade dabei, den Tauchsieder in die Blumenvase zu stecken, um Eier
darin zu kochen, und fragte: »So? Was schreibt er ?«
»Daß er seinen hellgrauen Mantel
braucht und daß es in Australien keine eßbaren Pilze gibt.« — »Dann soll er
doch etwas anderes essen«, sagte sie. — »Da hast Du recht«, sagte ich.
Später kam der Klavierstimmer. Er war
ein etwas schüchterner und zerstreuter Mann, ein wenig weltfremd sogar, aber er
war sehr nett, und natürlich sehr musikalisch. Er stimmte nicht nur Klaviere,
sondern reparierte auch Saiteninstrumente und erteilte Blockflötenunterricht.
Er hieß Kolhaas . Als ich vom Tisch aufstand, hörte
ich ihn schon im Nebenzimmer Akkorde anschlagen.
In der Garderobe sah ich den hellgrauen
Mantel hängen. Meine Frau hatte ihn also schon vom Speicher geholt. Das
wunderte mich, denn gewöhnlich tut meine Frau die Dinge erst dann, wenn
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