Liebster Mitbewohner
diesem Moment hörte ich ihn. Ich drehte mich um und beobachtete den ICE, wie er seine Position am Bahngleis einnahm. Felix stand auf und schulterte seine Reisetasche. Er drehte sich zu mir um und sah ratlos auf mich herab.
Ich blickte zu ihm hoch, ebenso ratlos.
Dann drehte er sich einfach um und stieg ein.
Als ich nach Hause kam, legte ich mich auf mein Sofa und starrte an die Decke. Ich fühlte mich zum Heulen, doch gestattete es mir selbst nicht, Tränen zu vergießen. Doch allein schon die Tatsache, dass mir Felix‘ Reaktion - oder eher: seine fehlende Reaktion - so nahe ging, bestätigte mich in meinem Verdacht, dass ich mehr als freundschaftliche Gefühle für ihn hegte.
Ich grübelte die ganze Nacht über eine mögliche Lösung für die Situation nach. Sollte ich vielleicht so tun, als wären meine Worte der Überanstrengung der letzten zwei Tage zuzuschreiben gewesen? So könnte ich es möglicherweise schaffen, unsere Freundschaft zu retten. Aber wollte ich das überhaupt? Und die größte aller Fragen: Was wollte eigentlich Felix? Er war ja geradezu starr vor Schreck gewesen. Das ließ nichts Gutes vermuten. Aber was hätte er gesagt, wenn nicht plötzlich der Zug gekommen wäre? Hätten wir dann ein vernünftiges Gespräch führen können? Hätte er mir sachlich aber bestimmt erklärt, dass er mir zwar freundschaftliche, nicht aber romantische Gefühle entgegen brachte? Irgendwie konnte ich es mir nicht vorstellen. Und je länger ich in dieser Nacht wach lag, desto mehr Erinnerungen bahnten sich den Weg an die Oberfläche meines Gedächtnisses: Wie er mich so entschlossen vor Leons neuerlichem Einfluss beschützt hatte. Seine Reaktionen auf meine und Bennis Gespräche, die ich auch mit viel schlechtem Willen nur als „eifersüchtig“ bezeichnen konnte. Jener Abend, an dem Valerie aufgetaucht war und an dem wir uns beinahe geküsst hätten. Jene Nacht, in der wir uns tatsächlich geküsst hatten.
Genau! Ich setzte mich kerzengerade auf meinem Sofa auf. Objektiv gesehen konnte man die Beziehung, die Felix und ich zueinander hatten, nun wirklich nicht als rein kumpelmäßige Freundschaft bezeichnen. Das musste Felix doch auch aufgefallen sein. Oder küsste man seinen Kumpel und war eifersüchtig, wenn sich ein anderer Kumpel für diesen interessierte? Natürlich nicht!
Zufrieden lächelnd ließ ich mich wieder zurück auf mein Kissen sinken. Ich würde noch einmal mit Felix reden.
Im nächsten Moment war ich eingeschlafen.
Trotzdem war diese Nacht im Großen und Ganzen eher kurz für mich gewesen. Als am nächsten Morgen früh mein Wecker klingelte, weil ich zur Arbeit musste, fühlte ich mich daher entsprechend erschlagen.
Als mir allerdings die Ereignisse des letzten Abend s wieder einfielen, so wie der Schluss, zu dem ich während meines nächtlichen Grübelns gekommen war, erfüllte mich das mit neuer Energie. Mir war klar, dass ich nicht mit Sicherheit erwarten konnte, dass Felix ebenso fühlte wie ich. Aber ich fand schon, dass die Chancen ganz gut standen. Schließlich ging es hier um Felix. Irgendwie sah es ihm ähnlich, erst einmal wie ein Auto aus der Wäsche zu gucken, nur um mit einiger Verzögerung darüber nachzudenken und festzustellen, dass es ihm genau so ging wie mir. Im Grunde war es ja bei der Arzt-oder-Journalismus-Entscheidung das Gleiche gewesen.
Als ich nachmittags nach Hause kam hatte ich mich allerdings immer noch nicht entschieden, ob ich ihn gleich anrufen oder ihm noch etwas Nachdenk-Zeit gewähren sollte. Die nächsten drei Stunden plauderte ich mit Dani über einige unwichtige Dinge, aß etwas und grübelte über diese Frage nach. Schließlich wurde mir die Entscheidung abgenommen, als gegen sieben mein Handy klingelte. Auf dem Display leuchtete Felix‘ Name.
„Hi“, sagte ich zur Begrüßung und bedeutete Daniel durch Handbewegungen, dass ich mich für dieses Gespräch in mein Zimmer zurückziehen würde.
„Hi“, kam es von Felix. Er räusperte sich und schwieg dann.
„Ja?“
„Was ja?“
„Na, du rufst doch wahrscheinlich aus einem bestimmten Grund an, oder?“, fragte ich und lachte etwas nervös auf.
„Du weißt genau, wieso ich anrufe.“
Mein Lachen verging mir augenblicklich. „Okay, du bist sauer. Wieso?“
„Ist das dein Ernst? Was du mir da gestern gesagt hast-“
„-ist ganz bestimmt kein Grund, sauer zu sein. Im Gegenteil.“
„Ach? Soll ich vielleicht Luftsprünge machen, weil meine beste Freundin mir durch die Blume sagt,
Weitere Kostenlose Bücher