Liebster Mitbewohner
hinunter. Sie war so gut wie völlig leer. Ich musste gerade eine Bahn verpasst haben. Böses ahnend sah ich zur digitalen Anzeige hoch.
U3 über Hauptbahnhof – 5 min.
Ich fluchte. Dann begann ich, am Gleis auf- und abzumarschieren. Zwischendurch sah ich immer wieder auf die Uhr.
8.03.
8.05.
Schließlich sprang die Anzeige um: U3 – In Kürze .
8.06.
Der Lärm einer heranfahrenden Bahn hallte durch die Station. Kaum hielt sie, riss ich die Tür auf und stürzte hinein. Ungeduldig verfolgte ich, wie andere, weniger schnelle Menschen, einstiegen. Dann waren endlich alle drin und die Bahn fuhr los. Wieso fuhr die heute so langsam? Und warum waren ausgerechnet heute so viele Lahmeinsteiger unterwegs? Mussten die nicht pünktlich zur Arbeit?
Kurz: Es dauerte eine Ewigkeit bis zum Bahnhof. Zumindest meiner Wahrnehmung nach. In Wirklichkeit waren es nur fünfundzwanzig Minute n. Um halb neun stürzte ich aus der U-Bahn, rannte am Gleis entlang und die Rolltreppe hoch. „Rechts stehen, links gehen!“, meckerte ich ein kleines Kind an, das neben seiner Mutter auf derselben Stufe stand und mir deshalb nicht schnell genug aus dem Weg gehen konnte. Von der B-Ebene führte noch mal eine endlose Rolltreppe zu den Abfahrtsgleisen der Fernzüge. Diesmal kam ich ohne Probleme durch. Oben blieb ich erst mal keuchend und mit bleischweren Beinen stehen. Wohin jetzt? Dieser dämliche Bahnhof hatte über zwanzig Ferngleise.
Ich packte eine stämmige Frau, die in einer Uniform der Deutsche n Bahn steckte, am Ärmel. „Wissen Sie, von welchem Gleis der Zug nach Berlin um 8.37 Uhr fährt?“
Die Frau musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen.
Ich ließ ihren Ärmel los. „‘tschuldigung, aber ich hab’s eilig!“
„ICE, 8.37 Uhr, nach Berlin, Gleis 9. Aber-“
„Danke!“ Ich hatte keine Zeit, mir ihre Hinweise auf eine umgekehrte Wagonreihenfolge oder das Fehlen des Speisewagens anzuhören. Die riesige Bahnhofsuhr zeigte 8.35 Uhr. Ich raste im Zigzack an Menschen und Koffern vorbei. Dann bog ich endlich nach rechts auf den Bahnsteig von Gleis 9 ab. Erst, als ich schon suchend rund zwanzig Meter weiter gesprintet war, fiel mir auf, dass etwas nicht stimmte.
Eine Minute vor der regulären Abfahrtszeit. Und es war kein Zug in Sicht.
Gut, normalerweise kein Grund zur Panik, das hier war schließlich die Deutsche Bahn. Wahrscheinlich hatte der Zug einfach fünf, zehn, oder fünfzig Minuten Verspätung. Aber mir dämmerte, dass das diesmal nicht der Fall war. Mit einem mehr als flauen Gefühl im Magen hob ich den Kopf und blickte über Gleis 9 hinweg. Dahinter kam direkt Gleis 10, ebenfalls leer. Dann der Bahnsteig zwischen Gleis 10 und 11. Auf Gleis 11 stand ein Zug, ein Intercity-Express. In diesem Moment ertönte die Durchsage: „Achtung: Der Intercity-Express 308 nach Berlin Hauptbahnhof, Abfahrt 8.37 Uhr, heute von Gleis 11.“
Ich stand da, am falschen Gleis, und starrte den Zug an. Tränen der Verzweiflung traten mir in die Augen. Es war sinnlos. Ich konnte es nicht rechtzeitig rüber schaffen, der Zug würde jeden Moment losfahren. Ich kam zu spät.
In diesem Moment schlenderte ein Pärchen am Gleis entlang. Er ziemlich groß, mit einem schwarzen Mantel bekleidet und einer mittelgroßen Reisetasche an der Schulter. Sie reichte ihm kaum bis an ebendiese, obwohl sie schwarze Stilettos trug. Ihr Oberkörper steckte in einem weißen Blazer und ihre rechte Hand zog ein rotes Mini-Köfferchen hinter sich her.
Ich starrte sie an. Sie waren gerade erst in den Bahnsteig eingebogen, befanden sich noch nicht mal auf meiner Höhe. Ich konnte mich nicht rühren. Was sollte ich tun? Über zwei Gleise und die Menschen, die dazwischen warteten, hinwegschreien?
Mir fiel auf, dass Felix und Valerie nicht miteinander sprachen. Sie warf ihm hin und wieder einen Blick zu, doch Felix‘ Augen waren stur geradeaus gerichtet.
Seine Entscheidung , sagte eine Stimme in meinem Kopf. Er hat sich entschieden. Mach dich nicht lächerlich vor all den Leuten und vor ihm, nur weil du es nicht akzeptieren kannst.
Sie waren jetzt auf meiner Höhe. Valerie sagte etwas zu Felix, wedelte mit den Tickets, die sie in der freien Hand hielt und deutete auf den nächsten Wagen.
Ich schüttelte den Kopf und wischte die Tränen weg. Ich konnte es nicht. Und der Grund waren nicht die vielen Leute, nicht einmal Valerie. Sondern Felix. Ich konnte nicht noch einmal diesen gleichzeitig wissenden und wütenden Ausdruck in seinen Augen sehen. Wie
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