Liebster Mitbewohner
hierher kam, hat er sich vor allem darüber beklagt, dass sie nicht versteht, dass er keine Lust mehr aufs Arztsein hat. Aber wenn sich das jetzt für ihn erledigt hat, steht ihm und Valerie nichts mehr im Wege. Ist doch logisch, oder?“
Ich fand das alles andere als logisch. „Was ist mit seinem Job?“
„Das Kellnern? Kein Problem, hat er gesagt, kann er einfach kündigen. Er war sowieso noch in der Probezeit.“
„Und du fandest ihn am Telefon ganz normal?“, hakte ich nach. „Nicht deprimiert und reizbar?“
„Nein.“
„Aber was kann man am Telefon auch groß über den Gemütszustand des Gesprächspartners sagen?“
„Maja, vielleicht steigerst du dich da in was rein. Ich meine, ihr habt zwei Wochen lang ziemlich nah aufeinander gehangen. Und nach der Sache mit Leon… vielleicht ist es normal, dass du dich da ein bisschen auf Felix fixiert hast, als Ablenkung sozusagen.“
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und wartete. Kam da noch was oder konnte ich ihn anschreien?
„Du hast dir eben in den Kopf gesetzt, dass er sein Leben verändern muss und du ihm dabei hilfst. Aber sei doch froh, dass das alles gar nicht so dramatisch ist. Dass er einfach nur eine kleine Auszeit brauchte.“
„Du kapierst es nicht. Wie kannst du so lange mit ihm befreundet sein, über zwei Wochen mit ihm zusammen wohnen, und ihn so wenig kennen?“
„Also-“
„Raus.“
„Bitte?“
„Raus aus meinem Zimmer!“
Daniel schüttelte den Kopf, als wollte er sagen: Jetzt drehst du völlig am Rad. Dann verließ er das Zimmer.
Ich legte den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. Und stellte mir die berühmte Frage: War ich verrückt oder alle anderen?
Nach etwa einer Stunde intensiven An-die-Decke-Starrens hatte ich die Nackenschmerzen meines Lebens. Ich stand auf, griff abermals nach meinem Handy und ließ es wieder sinken. Nein, Elena war diesmal keine Hilfe. Und ich hatte schon meinen besten Freund wegen dieser Sache angeschrien. Bevor ich nicht hundertprozenti g wusste, dass ich es war, die Recht hatte, würde ich von derartigen Auseinandersetzungen lieber Abstand nehmen.
Ich trat ans Fenster. Es wurde langsam dunkel. Kurzentschlossen verließ ich die Wohnung. Draußen blickte ich ratlos in alle Richtungen. Wohin? Was machte ich überhaupt hier draußen?
Ich lief einfach los. Und plötzlich stand ich vor der U-Bahn-Station, in der ich Felix nach seinem Verschwinden aufgelesen hatte. Ich ging die Treppen hinunter und stellte mich neben die Bank. Es herrschte reger Betrieb hier unten, da Feierabendszeit, und alle Sitzplätze waren belegt.
Eine U-Bahn kam, dann die auf der anderen Seite, und plötzlich war die gesamte Station leer. Ich ließ mich auf die verwaiste Bank fallen. Schon nach zehn Minuten wurde meine Haltung unbequem. Ich rutschte etwas herum, doch es half nichts. Wie hatte Felix es hier eine ganze Nacht lang ausgehalten? Ich lächelte, als mir die Antwort einfiel: Genauso, wie ich gerade eine Stunde lang mit dem Kopf im Nacken dagesessen hatte. Er hatte nachgedacht, war vollkommen von seinen Gedanken vereinnahmt gewesen. Wahrscheinlich hatte er erst am Morgen realisiert, dass er die ganze Nacht hier gesessen hatte. Und, so unbequem es für ihn gewesen sein mochte, es hatte etwas gebracht. Der Felix, den ich auf dieser Bank sitzend vorgefunden hatte, war nicht derselbe gewesen, der am Abend zuvor bücherwerfend verschwunden war. Plötzlich hatte er Interesse gezeigt. Hatte wissen wollen, wie es in der Uni gewesen war.
Das Gleis füllte sich abermals, die Bahnen kamen und die Leute stiegen ein. Ich beobachtete das Spiel noch eine Weile, dann stand ich auf und ging nach Hause.
Daniel warf mir einen besorgten Blick zu, als ich an ihm vorbei in mein Zimmer schlich. Ich zog mich aus, legte mich auf mein Sofa und zog mir die Decke bis zum Kinn. Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Ich drehte mich von einer auf die andere Seite und wieder zurück. Irgendwann fiel ich in einen unruhigen Schlaf, erwachte, driftete wieder weg. Und als ich das vierte oder fünfte Mal wach war – es musste schon gegen Morgen gehen – fiel mir plötzlich etwas ein. Nämlich der erste Satz, den Felix zu mir gesagt hatte, als wir nach seiner Nacht auf der U-Bahn-Bank hierher zurückgekehrt waren. Er hatte in seinem Bett gelegen und ich auf diesem Sofa, als er ganz unvermittelt gesagt hatte: Ich glaube nicht, dass es bei mir so wäre. Damit hatte er seinen Beruf gemeint, von dem er nicht glaubte, dass er ihn
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