Lied aus der Vergangenheit
verlieren.«
»Das ist nur eine mögliche Auswirkung der Hypoxämie. Sie muss keineswegs eintreten.«
»Es gibt noch mehr, was ich Ihnen erzählen möchte.«
Ein Jahr verging. Für mich ein Jahr des Wartens. Es kam die bereits erwähnte Vierzig-Tage-Feier. Wussten Sie, dass die vierzig Tage für eine Frau das Ende der Trauerzeit bedeuten? Bei ihren eigenen Leuten galt Saffia als reif für eine Neuvermählung. Das Leben währt hier zu kurz, als dass man allzu lange trauern durfte.
Im November landete eine zweite Apollo-Mission auf dem Mond. Keiner dachte daran, deswegen eine Party zu schmeißen. Die Besatzung sollte Farbbilder übertragen, aber irgendwas ging schief, und die Übertragung scheiterte. Saffia verfolgte aufmerksam die Radionachrichten, genau so wie sie es getan hatte, als die ersten Astronauten aus der Quarantäne entlassen worden waren und eine Pressekonferenz gegeben hatten. Ich wusste, dass sie unentwegt an Julius dachte. Aber wie ich schon sagte, es war ein Jahr des Wartens.
Dann kam das Jahr 1970 . Die Sechzigerjahre waren vorüber.
Ich musste mit ansehen, wie Saffia ums Überleben kämpfte. Nach Julius’ Tod gab es allerlei praktische Dinge, die es zu erwägen galt. Ihre Unabhängigkeit, die mich bei unserem ersten Treffen so beeindruckt hatte, hatte sich natürlich als eine Illusion erwiesen. Eine Illusion, die Julius, der seine Frau verzog, aufrechterhalten und verewigt hatte. Und ebenso verzogen hatten wir drei, Kekura, Yansaneh und ich, sie vermutlich auch, jeder auf seine Weise. Denn hatten wir sie nicht verehrt? Hatten wir uns nicht darin überboten, sie durch unsere Darbietungen zu unterhalten? Uns als ihre Beschützer zu sehen? Wir hatten uns Julius’ Pflichten zueigen gemacht. Doch jetzt war Julius gestorben. Kekura geflohen. Und Yansaneh gebrochen. Nur noch ich war übrig.
Saffia wohnte weiter im rosa Haus auf dem Hügel, und mit ihr die greise Tante, die kam und ging, zwischen Stadt und Dorf hin und her. Die Tante war, wie ich wohl schon angedeutet habe, eine Frau, die konstant eine unterschwellige Feindseligkeit ausstrahlte, ein unerschöpfliches Hasspotenzial zu besitzen schien. Sie hasste die Stadtmenschen, die völlig von sich eingenommen waren. Sie hasste Ungläubige, Christen aber noch mehr, weil sie ihnen außerdem noch misstraute. Sie hasste die Armen, die Schwachen, die Kranken und die Bedürftigen. Insbesondere verabscheute sie sämtliche Angehörigen ihres eigenen Geschlechts. Ihre Einstellung Männern gegenüber war etwas komplizierter, denn sie umfasste zusätzlich zu ihrem angeborenen Widerwillen gegen ihre Mitmenschen eine kriecherische Haltung gegenüber allen, die ein gewisses Quantum Macht besaßen. Dass sie mich nicht gemocht und meine Besuche mit Argwohn beobachtet hatte, wusste ich.
Zwischen Saffia und der Tante hatte es immer wieder Reibereien gegeben. Ihre Tante kam direkt von den Reisfeldern. Es war nicht verwunderlich, dass Saffia sich über eine ältere Person voll von abergläubischen dörflichen Vorstellungen leicht aufregte. Doch das Gleichgewicht in der sozialen Hierarchie ist empfindlich und von vielen Faktoren abhängig: Familie, Alter, Besitz.
Das Verhalten der Tante Saffia gegenüber veränderte sich nach Julius’ Tod nur geringfügig. Sie war lediglich, könnte man sagen, insgesamt weniger vorsichtig. Ihr Ton wurde schärfer, ihre Forderungen häufiger und kleinlicher. Sie schien der Meinung zu sein, Saffia sei nur dazu da, nach ihrer Pfeife zu tanzen. Was dazu geführt hatte, war Folgendes: Während die Tante die Ältere war und als solche ein hohes Maß an Respekt verdiente, hatte Saffia einen »großen Mann« geheiratet – dies natürlich in den Augen der Tante –, der in einem so luxuriösen Haus wohnte, wie es die Tante mit Sicherheit nie zuvor betreten hatte.
Jetzt war Julius tot und Saffia nicht mehr mit einem großen Mann verheiratet.
Die Frau von gegenüber, eine unflätige Fischhändlerin, schien in der Beobachtung des rosa Hauses und all dessen, was da kam und ging, ihre neue Bestimmung gefunden zu haben – woraus sie auch keinen Hehl machte. Schon mehrmals hatte ich unter ihrem Blick vor der Tür gewartet und mir angehört, was sie gegenüber unsichtbaren Zuhörern bezüglich meines Besuchs anzumerken hatte. Ihren Mann bekam ich kein einziges Mal zu Gesicht. Zweifellos war er von der Terrasse verbannt worden, aus Angst, er könnte der Versuchung erliegen, die das Haus gegenüber neuerdings zu bieten hatte. Wobei die
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