Lied aus der Vergangenheit
das einzige Mal war, wo sie mir gegenüber ausdrücklich über Julius sprach – beiläufig erwähnte sie ihn allerdings häufig.
»Ich vermisse ihn noch immer, Elias«, sagte sie.
»Ich weiß«, erwiderte ich. »Ich vermisse ihn ebenfalls.« Was in gewisser Weise stimmte. Julius hatte eine Lücke in meinem Leben hinterlassen. Ich hatte nicht allzu viele Freunde gehabt.
Saffia seufzte. »Vielleicht, wenn wir ein Kind gehabt hätten. Aber Julius wollte, dass ich erst mein Studium abschließe.«
»Es bleibt ja noch Zeit«, sagte ich. »Sie sind jung.« Das ist die Standardantwort, so was sagt man Witwen dauernd. Ich hatte geredet, ohne nachzudenken.
Doch sie antwortete lediglich: »Ja.«
Ein einziges Wort. Und es lag so viel mehr darin. Sie hatte Ja gesagt. Hatte mir beigepflichtet, dass ihr Leben noch nicht vorbei war. Ich sah sie an. Ich war von einem Gefühl unaussprechlicher Freude erfüllt. Erst später erkannte ich, was es war. Hoffnung. Denn in diesem Augenblick strömten die Schönheit und der Schmerz der Vergangenheit, die unerträgliche Gegenwart und die mögliche Zukunft zusammen.
Ansonsten war das Leben in fast jeder Hinsicht zu einer Art Normalität zurückgekehrt. Ich sah Yansaneh, glaube ich, einmal auf dem Campus. Er schien sich möglichst unauffällig zu verhalten. Von Kekura kein Wort. Ebenso wenig hörte ich von Johnson je wieder etwas. Der Dekan schien ganz passabler Laune zu sein. Viele Universitäten in unserem Land und anderswo schlossen ihre geisteswissenschaftlichen Fakultäten oder bekamen zumindest ihre Mittel gekürzt. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten waren das die Fächer, die als erste in Mitleidenschaft gezogen wurden. Die Regierung argumentierte damit, bestimmte Kenntnisse seien notwendiger als andere. Philosophie, Literatur, Drama – solche Fächer waren in Notzeiten die ersten, die es erwischte. Bislang hatte der Dekan sich in solchen Angelegenheiten als ein starker Verhandlungspartner erwiesen und es irgendwie geschafft, unsere Fakultät vor diesem Schicksal zu bewahren. Wie die Monate vergingen, schienen Julius, sein Tod, meine Verhaftung … diese Ereignisse schienen sich mehr und mehr in die Vergangenheit zurückzuziehen.
Dann ein unerfreulicher Zwischenfall. Ein Besuch von Vanessa.
An einem Samstag kreuzte sie bei mir auf. Ich konnte mich kaum erinnern, wann ich sie zuletzt gesehen hatte. Jedenfalls hatte sie sich nicht verändert, auch wenn ihr Aussehen der aktuellen Mode angepasst worden war. Wie ich später erfuhr, hatte sie einen neuen Freund. Sie trug eine große Afroperücke und eine enge Hose. Ich habe mir nie was aus Hosen an einer Frau gemacht. Es fiel mir schwer, keine Vergleiche mit Saffia anzustellen, und ich frage mich, ob Vanessa meinen abschätzenden Blick nicht spürte, denn sie lehnte sich an den Küchentresen und bedachte mich mit einem herausfordernden Blick.
»Du siehst gut aus, Vanessa«, sagte ich.
»Danke, Elias. Ich bin vorbeigekommen, um zu sehen, wie es dir geht.«
»Wie du siehst, gut.«
»Nun, das freut mich.« Sie klang so, als hätte sie diesbezüglich etwas anderes gehört. Mir fiel auf, wie sie sich in der Wohnung umschaute. Dann sagte sie: »Vielleicht möchtest du mir einen Kaffee anbieten.«
Ich hatte nicht die geringste Absicht, ihr Kaffee zu machen. Dennoch griff ich an ihr vorbei und fand Nescafé und Kondensmilch. Ich stellte den Gasherd an und setzte Wasser auf. Ich bot ihr keinen Zucker an.
»Stimmt es, dass sie dich festgenommen haben?«, sagte sie.
»Nein«, log ich.
»Das sagen aber die Leute.«
»Na, dann irren sie sich.« Ich fragte sie nicht, woher sie das wusste. Es wäre typisch Vanessa gewesen, Beziehungen bei der Polizei zu haben – so ein, zwei Liebhaber.
Sie betrachtete mich kühl. Die Tasse Kaffee stand auf dem Tresen.
»Dein Kaffee wird kalt.«
»Er ist zu bitter«, sagte sie, ohne den Blick von mir zu wenden. »Dann ist es vielleicht keine so schlechte Sache für dich – was mit Julius passiert ist?«
»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte ich. »Julius war mein Freund. Sein Tod ist eine Tragödie.«
Sie lachte, ein kurzes, leises und gleichzeitig abruptes Geräusch. »Dann ist seine Frau jetzt also Witwe.« Ihre Stimme hatte einen anzüglich-hämischen Unterton angenommen, der mir gar nicht gefiel.
»Ja«, sagte ich. »Saffia trauert um ihren Mann.«
Wieder dieses Lachen.
»Vanessa«, sagte ich. »Ich bin froh, dich zu sehen. Schau bei Gelegenheit wieder vorbei, oder ich komme zu dir.
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