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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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eins.
    »Dieser Mann, Johnson.« Sie schweigt, hält sich die Flasche an die Stirn, die Augen geschlossen. Eine Minute lang bleibt sie so, dann schaut sie auf, Adrian direkt in die Augen, wedelt mit dem Finger in der Luft. »Meine Mutter.« Sie steht auf und geht ans Geländer, dreht sich um und sieht ihn an. »Wie kann ich dir meine Mutter beschreiben? Sie war eine äußerst beherrschte Frau, so sehr, dass es den Eindruck machte, sie verheimlichte etwas. Als ich älter wurde, regte es mich auf, nachdem ich von Vanessa erfahren hatte – nicht ein Mal stellte sie ihn deswegen zur Rede.
    Einmal, als ich noch klein war, fuhren wir in die Stadt. Es war ein Samstag. Meine Mutter wollte zum Supermarkt, zum Schneider, zur Markthalle, um Gemüse und Fleisch einzukaufen. Sie nahm mich immer mit, damit ich ihr tragen half und Gesellschaft leistete. Diesmal waren wir gerade erst aus dem Supermarkt im Zentrum herausgekommen – dort, wo jetzt die vielen Geldwechsler sind, da war früher der Supermarkt. Wir kamen gerade heraus, als ein Mann hineinging. Er sprach meine Mutter an, grüßte sie, sprach sie sogar beim Namen an. Und sie behandelte ihn wie Luft. Es war das erste Mal, dass ich meine Mutter so unhöflich erlebte. Ich war völlig verdutzt. Er tat mir leid. Wir gingen einfach an ihm vorbei. Ich drehte mich um und sah ihn dort stehen, den Einkaufskorb in der Hand. Dürr wie ein Vogel in seinem schwarzen Anzug.«
    Sie setzt sich hin und hebt ein Blatt Papier auf, das auf dem kleinen Tisch liegt, fängt an, es zu falten, wie sie es gelegentlich tut. Adrian hat es schon früher gesehen. Jetzt schaut er zu. Sie faltet das Papier und faltet es wieder, faltet es zu irgendetwas – etwas, das sie wieder auseinanderzieht, bevor es fertig ist.
    »Acht oder neun Jahre später, gerade nachdem meine Mutter gestorben war, kam derselbe Mann zu uns nach Hause. Mein Vater bat mich, eine Flasche Whisky in das Arbeitszimmer zu bringen. Weißt du, woran ich erkannte, dass es jemand Wichtiges war? Ich brachte den Red Label, und mein Vater schickte mich theatralisch empört zurück, damit ich den Black Label holte. Das war er, da bin ich mir sicher. Dieser Mann hieß Johnson. Er war ein paar Tage vor den Unruhen auf dem Campus da, und er war ein paar Tage später wieder da.« Sie redet langsam weiter: »Johnson muss darin verwickelt gewesen sein. Ich erzählte meinem Vater, wer zur Party kommen würde. Mein Vater erzählte es Johnson. Mein Vater hat mich benutzt, um meine Freunde zu verraten.«
    Adrian betrachtet das Stück Papier, halb gefaltet, achtlos beiseite gelegt. Was hätte es werden sollen? Ein Haus? Ein Vogel? Von wem hat sie Origami gelernt? Es konnte nur von Kai sein. »Das kannst du nicht mit Sicherheit wissen.« Er war unaufmerksam. Das war das Falscheste, was er sagen konnte.
    Mamakay dreht sich um, sieht ihm voll ins Gesicht. Ihre Stimme ist schroff. »Hast du eine Ahnung, was es kostete, an einem solchen Ort zu überleben, wo jeder ununterbrochen überwacht wurde, wo man niemals wusste, wer Freund und wer Feind war? Und man immer nur wartete, wer der Nächste sein würde?«
    Adrian steht auf und geht auf sie zu; er möchte sie in die Arme nehmen. »Ich könnte mir vorstellen, dass es großen Mut erforderte«, sagt er.
    Sie weicht ihm aus, entfernt sich, als könne seine Berührung sie versengen. Vom anderen Ende der Veranda aus schaut sie ihn an und lacht freudlos. »Oh, natürlich, die neue political correctness . Jeder ist jetzt ein Opfer. Das ist amtlich. Aber siehst du, genau da liegst du falsch, Adrian. Mut ist nicht das, was man zum Überleben brauchte. Ganz im Gegenteil! Um zu überleben, musste man ein Feigling sein. Darauf achten, dass man nie den Kopf über die Brüstung hob, nie Fragen stellte, niemals etwas sagte, was einen in Schwierigkeiten bringen konnte.«
    »Ich verstehe, was du meinst. Aber trotzdem könnten sie die Informationen von anderswoher bekommen haben.«
    Sie wendet sich ihm wieder zu, mit einem erbarmungslosen Blick, den er noch nie bei ihr gesehen hat. »Jeder spricht von ›sie‹. Ihnen. Aber wer sind sie? Wer sind sie? Leute wie Johnson? Dafür bezahlt, die Dinge zu tun, die sie tun? Oder die Leute, die ihnen dabei helfen, die den Mund halten und wegschauen? Mein Vater hat überlebt. Nein, er hat nicht lediglich überlebt, er ist fett geworden! Und irgendwann kam der Punkt« – sie atmet tief durch, schlingt die Arme um sich und wendet sich halb ab –, »es kam der Punkt, da ich mich fragen

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