Lied aus der Vergangenheit
mitten auf dem Hof stand. Er sah ihr Lächeln versiegen. Sie hatten sich mit der Förmlichkeit von Liebenden gegrüßt, deren Wunde noch nicht verheilt ist. So gar nicht Nenebah, die vorsichtige, beflissene Stimme, mit der sie nach seiner Mutter gefragt hatte, seinem Vater, ja selbst nach seiner Schwester, die sie so gut wie gar nicht persönlich kannte.
Unendlich lange hatte er alles in seiner Macht Stehende getan, um nicht an sie zu denken. Nach und nach, ohne es zu merken, hatte er sie wieder in seine Gedanken gelassen.
Hinter ihr stand Adrian, eine Hand auf ihrer Schulter, und sah von Kai zu Nenebah und wieder zurück, während das Lächeln auf seinem Gesicht langsam verblasste. Was wäre passiert, fragt sich Kai, wenn Adrian nicht da gewesen wäre, wenn sie allein gewesen wären?
Er öffnet die Tür zu seinem Zimmer. Das Erste, was ihm auffällt, ist der Geruch – nach Schweiß und abgestandenem Zigarettenrauch. Die Fenster sind geschlossen, auf dem Bett ein Nest von Laken und in der Ecke des Zimmers ein Paar Schuhe, altmodische Männerschnürschuhe, die früher einmal seinem Vater gehörten, rissig und blank geputzt, mit Zeitungspapier ausgestopft. Bücher sind aus den Regalen geräumt und auf dem Boden aufgestapelt worden. Eine leere Dose dient als Aschenbecher. Zwischen einem Fenstergitter und einem in die Wand geschlagenen Nagel ist ein Draht ausgespannt, an dem eine Hose hängt. Das Rätsel um den verschwundenen Kühlschrank ist gelöst. Kai durchquert das Zimmer und zieht energisch an der Tür. Sie gibt plötzlich, mit einem hörbaren Schnalzen nach. Der Kühlschrank ist leer, der Gestank, der aus ihm dringt, unbeschreiblich. Er folgt dem Kabel bis zum Stecker, der auf dem Fußboden liegt. Dann geht er an ein Fenster und reißt es auf. Ein Geräusch lässt ihn herumfahren. Die vorher noch geschlossene Badezimmertür ist jetzt offen. Jemand beobachtet ihn aus dem Dunkeln.
»Wer ist da?«, sagt Kai. »Hey, du!«
Er nähert sich dem Badezimmer. Das Gesicht verschwindet. Kai streckt die Hand nach der Tür aus, aber noch bevor seine Hand sie berührt, schießt jemand an ihm vorbei und stößt seinen Arm beiseite. Ein Junge. Kai bekommt ihn am Hemd zu fassen, aber der Junge reißt sich los und stürzt zur Haustür. Kai setzt ihm nach und packt ihn am Arm.
»Hey«, sagt er, jetzt leiser. »Bleib stehen.«
Einen Augenblick lang schaut ihm der Junge direkt ins Gesicht, und Kai sieht etwas Vertrautes in ihm. Er lockert seinen Griff. Der Junge rührt sich nicht, wendet kein Auge von Kais Gesicht. Plötzlich weicht er zurück und läuft zur Tür. Diesmal macht sich Kai nicht die Mühe, ihn zu verfolgen. Ihm fallen die Nägel des Jungen auf, als er nach der Tür greift – rosa lackierte Nägel. Und dann ist er verschwunden. Kai bleibt regungslos stehen und atmet aus. Jetzt hat er vergessen, wozu er überhaupt hergekommen ist. Ja. Er hatte gedacht, er könnte die Encyclopaedia für Abass mit nach Hause nehmen. Doch hier gibt es nichts für Abass, nichts für ihn. Er schließt die Tür hinter sich, durchquert das Haus, lässt alle Türen offen, die er offen vorgefunden hat, und steigt den Hügel hinunter zu Old Faithful, den er im Schatten eines Avocadobaums geparkt hat.
Während er den Hügel hinunterfährt, fällt Kai plötzlich ein, wer der Junge ist. Der Sohn einer ihrer früheren Köche. Kais Eltern hatten ein paar Jahre lang die Schulgebühren für ihn bezahlt, bis Kais Mutter den Vater wegen Klauens vor die Tür setzte. Er hält den Wagen und sitzt mehrere Sekunden mit den Händen am Lenkrad da, dann fährt er im Rückwärtsgang den Hügel wieder hinauf. Er geht ins Haus, in sein altes Schlafzimmer, schließt den Kühlschrank an und schaltet ihn ein. Und als er diesmal geht, schaut er nicht zurück.
Kai betritt das Haus seiner Cousine und wird von Lärm empfangen. Zwei seiner Tanten stehen mitten im Zimmer und scheinen seine Cousine anzuflehen oder ihr möglicherweise Vorhaltungen zu machen. Seine Cousine ihrerseits schüttelt den Kopf und hält die Hände vor sich in die Höhe, als wehre sie die beiden ab. Alle reden gleichzeitig. Von Abass ist nichts zu sehen. Kai braucht zehn Minuten, um herauszufinden, was passiert ist.
Abass hat seine Mutter beschimpft. Jetzt hat er sich in seinem Schlafzimmer eingeschlossen.
Das Wort, das genaue Wort, das er verwendet hat, ist immerhin so schlimm, dass seine Mutter eine Tracht Prügel für angemessen hält. Die Tanten flehen um Gnade für Abass. Keine von beiden
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