Lied aus der Vergangenheit
bereitete das Frühstück vor. Sie setzten sich damit auf den Hof. Adrian wünschte, es wäre ein Samstag, sodass er nirgendwo hinmüsste. Er wollte mit ihr reden. Vergangene Nacht hatten sie sich nicht geliebt, und jetzt aßen sie schweigend. Adrian stellte seinen Teller hin.
»Ihr standet euch also nah?«, fragte er sie. Sie wussten beide genau, wovon er sprach.
»Ja, wir waren während des Studiums zusammen. Ich hatte ihn seit Langem nicht mehr gesehen. Er wollte ins Ausland. Davon hat er ständig geredet.«
»Er ist Chirurg.« Und als sie nichts weiter sagte, fragte er: »Er war der, von dem du mir erzählt hast. Der, den du geliebt hast.«
Und sie beschloss, ihm nichts zu ersparen, wandte sich ab und nickte bloß.
Fünf Uhr. Irgendetwas brennt außerhalb der Anstaltsmauern. Ein Geruch nach Holzrauch, zederduftend, der gleiche Geruch, der Adrian eines Nachts, kurz nach seiner Ankunft, geweckt hatte, in der Nacht, als er Kai kennenlernte. Er schaute damals hinaus und sah eine Frau, die ein totes Kind zur Welt brachte. Kai war der erste Mensch, mit dem sich Adrian seit seiner Ankunft richtig unterhalten hat; sie sind Freunde geworden. Das war vor sechs Monaten. Wie viel hat er seitdem gelernt? Manchmal kommt es ihm vor wie eine ganze Menge, dann wieder wie nahezu gar nichts. Adrian richtet kurz die Augen zum Himmel, tritt in den unbeleuchteten Korridor und macht sich auf den Weg zu Elias’ Zimmer.
In seiner Praxis ist Adrian schon vielen Sorten von Lügnern begegnet: pathologischen Lügnern, zwanghaften Lügnern, Patienten mit vielfältigen Persönlichkeitsstörungen. Letzten Endes gibt es aber, grob gesprochen, nur zwei Arten von Lügnern: die Fantasten und die Puristen. Die Fantasten sind die Ausschmücker. Am leichtesten festzunageln, weil sie die Tendenz haben, sich zu widersprechen. Ein Lügner sollte ein gutes Gedächtnis haben, sagte Quintilian. Das Problem mit den Fantasten ist, dass sie in ihrem Bestreben zu beeindrucken in den Details nachlässig werden. Die Puristen, wie Adrian sie für sich nennt, sind von entschieden kühlerem Temperament. Intellektuell und rational, wissen sie um die Fehlbarkeit des Gedächtnisses, ziehen daher die Unterlassungslüge vor. Die wortlose Lüge, die sich weder belegen noch widerlegen lässt. Eins haben die Fantasten und die Puristen gemeinsam, und das teilen sie mit allen Lügnern – den pathologischen, den zwanghaften, den wahnhaften, denen, die unerträgliche Erinnerungen unterdrücken und verdrängen. Sie alle lügen, um sich zu schützen, um ihr Ich vor dem rohen Schmerz der Wahrheit zu beschirmen. Und wenn Adrian durch zwei Jahrzehnte des Studiums und der Praxis eines gelernt hat, dann das: den Zweck der Lüge zu entdecken.
Adrian hebt die Faust und klopft an die Tür von Elias Coles Zimmer. Er ist sich nicht recht im Klaren darüber, ob er in Stimmung für das ist, was ihn erwartet. Als er über die Schwelle tritt, verflüchtigt sich der Duft von Holzrauch, und an seine Stelle tritt ein anderer, klinischer Geruch, wie von zerstoßenem Aspirin. Da ist auch ein neues Geräusch, ein Surren. Der Sauerstoffkonzentrator.
»Er ist also endlich doch gekommen«, sagt er.
Elias Cole nimmt sich die Maske vom Gesicht. »Ich fasse es als Zeichen dafür auf, wie schlecht es um mich stehen muss. Die Menschen warten gern bis ganz zum Schluss, ehe sie ihr Gewissen erleichtern.«
Wie wahr, denkt Adrian. Er setzt sich, schlägt ein Bein über das andere und verschränkt die Finger: die Bilderbuchpose des klinischen Psychologen. »Worüber möchten Sie heute sprechen? Gibt es etwas Bestimmtes?«
Das letzte Mal haben sie über Mamakay gesprochen, doch Adrian wäre momentan jedes andere Thema lieber. Zu seiner Erleichterung schüttelt Elias Cole langsam den Kopf.
»Was es zu erzählen gab, habe ich Ihnen erzählt. Jetzt möchte ich nur noch in Frieden sterben.«
Zum ersten Mal verspürt Adrian einen leichten kalten Windstoß von Feindseligkeit gegenüber Elias Cole. Er sagt: »Etwas würde mich doch interessieren.«
»Ja?«
»Warum erklärte sich Johnson bereit, Sie zu entlassen? Nach Ihrer Festnahme?«
Adrian sieht, dass Cole seine Körperhaltung leicht verändert und sich ihm zuwendet. Er ist nur leicht, aber erkennbar überrascht. »Der Dekan war mit Johnson bekannt. Er hatte einen gewissen Zugang zu ihm. Dadurch war es ihm möglich, mich zu besuchen, während ich in Gewahrsam war. Wäre er nicht gewesen, würde ich wahrscheinlich noch immer dort sitzen.« Er stößt
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