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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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Auf der Herrentoilette zieht er die neue Hose an und geht dann zurück zur Rezeption, wo er dem Mädchen am Empfangstisch erklärt, er sei da, um den Englischtest abzulegen. Im Zimmer sitzen zwölf weitere Kandidaten, darunter aber niemand, den er kennt. Die Empfangsdame verteilt die Prüfungsunterlagen und geht wieder. Die ersten drei Seiten enthalten nur Multiple-Choice-Fragen. Suchen Sie aus der folgenden Liste die richtige Verbendung aus. Suchen Sie aus der folgenden Liste das richtige Substantiv aus . Ein Mann in einem grauen Dreiteiler kaut an seinem Bleistift, appliziert langsame Bleistifthäkchen aufs Papier. Kai huscht nur so über die Seiten. Als letzter Punkt wird nach einer kurzen Zusammenfassung einer möglichst aktuellen Nachrichtenmeldung verlangt. Kai, der seit Monaten keine Nachrichten mehr gehört hat, schreibt über die chinesische Terrakottaarmee. Ohne alles noch einmal durchzulesen, sammelt er seine Blätter zusammen und übergibt sie beim Hinausgehen dem Mädchen am Empfang.
    Es sind weniger als fünfzehn Minuten verstrichen, seit er den Prüfungsraum betreten hat.
    Jetzt hat er also bis Mittag frei. Er will gerade das Gebäude verlassen, als er es sich anders überlegt und die Treppe hinaufgeht, in die Bibliothek. Der Lesesaal ist, seit er zuletzt hier war, umgestaltet worden, aber der Geruch nach sauberer Luft und Papier ist noch derselbe. Als Kind verbrachte er hier Stunden mit medizinischen Fachbüchern – nicht um, wie die anderen Jungen, nach »unanständigen« Illustrationen zu blättern, sondern um sich in Diagramme zu vertiefen, die lateinischen Namen von Knochen, Muskeln, Geweben, Organen zu memorieren.
    Vor der Bibliothekarin artikuliert er lautlos »Geschichte« und wird von ihr zu den entsprechenden Regalen gewiesen. Afrika. Europa. Ozeanien, Indien. China. Er findet das, wonach er sucht, bei den großformatigen Büchern: Die Terrakottaarmee des Kaisers Qin Shi Huang . Das Buch ist über fünfzehn Jahre alt, die jüngsten Funde sind darin noch nicht berücksichtigt; trotzdem, es enthält zahlreiche, durchweg farbige Abbildungen.
    An der Ausleihe wartet Kai, während die Bibliothekarin die Kartei nach seiner alten Mitgliedsnummer durchsucht und dann seinen Namen Buchstaben für Buchstaben in die Computertastatur hackt. Dann schlendert er zum Regal mit den Periodika.
    Dort, im schmalen Gang, sieht er sie. Sie arbeitet an einem der Schreibtische, die an der Wand stehen, den Rücken zu ihm gewandt, über ein Buch gebeugt. Mehrere weitere Bände stehen neben ihrem Fuß auf dem Boden aufgestapelt, zwei andere neben ihrem Ellbogen. Ihr Kinn ist in die Hand gestützt. Mit der freien Hand wirft sie sich das Ende ihres Schals über die Schulter, eine so durch und durch vertraute Geste, dass es ihm fast den Atem verschlägt.
    Ein Jahr lang nichts, jetzt zweimal binnen weniger Wochen.
    All diese Monate hat er im kalten hellen Tunnel der Medizin gelebt. Einmal ist er an ihr vorbeigefahren, wie sie, die Arme voller Bücher, am Straßenrand stand. Er hat ihr nicht zugewinkt, dem Fahrer nicht zugerufen, er möchte halten. Er ist einfach vorbeigerauscht, in eine Zukunft ohne sie.
    Jetzt steht Kai da und beobachtet Nenebah. Es wäre so einfach, sie anzusprechen. Er sollte ihr vielleicht sagen, dass er das Land verlässt. Nach all diesen Auseinandersetzungen. Jetzt spielt das alles keine Rolle mehr. Andererseits, was kann er ihr in wenigen Minuten, hier in einer öffentlichen Bücherei, schon Belangreiches sagen? Was kann er sagen, das irgendetwas ändern würde? Er sollte ihr von jener Nacht auf der Brücke erzählen, von den Tagen davor und danach. Damals hatte er sich abgekapselt, ihr jeden Zutritt verwehrt. Sie war hartnäckig, aggressiv in ihrer Liebe, hatte versucht, ihn Stück für Stück auseinanderzunehmen. Erst als sie damit scheiterte, ließ sie endlich los; mittlerweile waren Monate vergangen. Sie liebte so, als zöge sie in den Krieg, aber gleichzeitig war sie nicht die Sorte Frau, die auf einen Mann wartet. Tapfer in der Schlacht, würdevoll in der Niederlage. Sie verließ ihn und schaute nie wieder zurück.
    Wie bei den meisten schweren Verletzungen stellte sich der Schmerz erst verspätet ein. Er versuchte, sie zu finden, zu ihr zurückzukehren. Mittlerweile wohnte sie nicht mehr bei ihrem Vater und zog in der Stadt ständig um. Er machte sich auf die Suche nach Mary, aber auch Mary war verschwunden. Angesichts dessen, was in der Stadt passiert war – und dessen Echos noch immer

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