Lied aus der Vergangenheit
der Stelle kehrt. Er beobachtet sie noch immer, als sie einen Schwenk macht und auf die Bar zuhält. Sie setzt sich auf einen Hocker und bestellt etwas. Kai findet nicht, dass sie sonderlich hübsch ist, aber sie führt sich so auf, als sei sie es, wirft ihren Pferdeschwanz durch die Gegend und zappelt auf dem Barhocker herum. Nur noch eine Frage von Minuten, bis sie ihn anspricht, anfängt, ihm Löcher in den Bauch zu fragen, und verlangt, dass er ihr sein Innerstes preisgibt. Bevor es dazu kommt, legt er das Buch auf den Tresen, schwingt sich vom Barhocker und marschiert los in Richtung Meer. Zunächst hat er lediglich vor, am Spülsaum entlangzugehen. Doch der Sand brennt ihm unter den Sohlen. Das Hemd beengt ihn, und er öffnet oben ein paar Knöpfe, dann noch ein paar, bevor er es ganz auszieht. Hose und Flipflops folgen. Nur noch in Shorts, geht er hinunter ans Wasser und durch die krachende Brandung. Eine Welle zerschellt an seinen Oberschenkeln und wirft ihn fast um. Als die Welle sich zurückzieht, setzt er seinen Angriff auf den Ozean mit ein paar weiteren Schritten fort, bevor er die Arme hebt und sich kopfüber in die nächste Welle stürzt.
Stille.
Wasser, warm wie Blut; er spürt, wie die Unterströmung ihn auf die See hinauszieht, breitet die Arme aus und lässt sich treiben. Er öffnet die Augen. Das Wasser ist trüb. Schräg abprallendes Sonnenlicht auf Sand. Ein Stück Tang schwebt waagerecht vor ihm im Wasser, wie ein neugieriger Passant. Gedämpfte Geräusche von stampfender Brandung auf Sand. Über ihm der glasige Meeresspiegel, durch den er, wie durch ein Buntglasfenster, eine schlierende ferne Sonne sieht. Er bricht durch die Wasseroberfläche und dreht sich auf den Rücken, pumpt Luft in seine Lunge und stößt sich mit den Beinen ab.
Wie lang er so daliegt und spürt, wie die Sonne das Salz auf seinem Gesicht trocknet, die Wellen ihn wiegen, weiß er nicht. Als er schließlich den Strand wieder hinaufgeht, um seine Sachen einzusammeln, ist der Barkeeper verschwunden, sein Buch liegt in einem Regal hinter dem Tresen. Kai lehnt sich hinüber und nimmt es, legt an dessen Stelle einen Geldschein und beschwert ihn mit einem Glas. Mit brennenden Augen streift er seine Sachen über die noch feuchte Haut und macht sich auf den Weg hinauf zur Straße. Zurück zum einzigen wirklichen Zufluchtsort, den er kennt.
Acht Uhr. Kai hat in der Kantine zu Abend gegessen und so getan, als würde er Zeitung lesen, damit sich niemand zu ihm an den Tisch setzte.
Jetzt durchquert er den Hof, das Buch über Kaiser Qin Shi Huang unter dem Arm. Ein Wind raschelt um die Krankenhausgebäude und in den Baumkronen. In der Luft hängt der kupferige Geruch nach Regen. Der Mond ist noch nicht aufgegangen, die Nacht ist in ihrer dunkelsten Phase.
Auf der Station riecht es nach Jod und Staub. Alles ist still. Die Nachtschwester sitzt über ein Kreuzworträtselheft gebeugt, als bete sie zu der Gipsjungfrau, die vor ihr auf dem Schreibtisch steht. Sie lächelt und macht Anstalten aufzustehen, aber er bedeutet ihr mit einer Geste, sitzen zu bleiben. Während er durch den Krankensaal geht, hebt sich hier ein Kopf, dort eine Hand, kaum merkliche Bewegungen, wie wenn eine Brise durch ein Kornfeld streicht.
Über Fodays Bett leuchtet ein Nachtlicht. Normalerweise ist er um diese Uhrzeit wach, das Radio dicht ans Ohr gepresst. Nicht heute Abend. Das Radio steht auf der Fensterbank, neben Fodays ordentlich gestapelten Habseligkeiten. Foday liegt schlafend auf dem Rücken. Ein Arm hängt neben dem Bett herunter. Kai legt das Buch auf die Fensterbank und will den Arm wieder unter das Laken legen. Fodays Haut glüht unter seinen Fingern. Kai beugt sich hinunter, um sich Foday anzusehen. Foday fröstelt, seine Stirn ist schweißbedeckt, seine Atmung flach und angestrengt. Seine Augen sind offen, starr, auf Kai gerichtet.
»Jesus!« Kai greift nach der Klingel. Die Nachtschwester steht von ihrem Schreibtisch auf und kommt, erst ruhigen Schritts, dann gelaufen. »Rufen Sie im OP an. Sie sollen alles bereit machen. Besorgen Sie mir einen Stationshelfer!«
Sie schaut ihn an und blinzelt, vorübergehend erstarrt, bis Kais Stimme sie in die Wirklichkeit zurückruft: »Los!«
Er wedelt mit der Hand vor Fodays Gesicht und freut sich zu sehen, dass er reagiert. Er sieht sogar den Schatten eines Lächelns. »Was versuchen Sie hier abzuziehen, mein Freund?«, sagt Kai. »Meine ganze Arbeit zunichtemachen?«
Im OP-Saal nimmt Kai eine
Weitere Kostenlose Bücher