Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
Vom Netzwerk:
Handkreissäge, setzt sie an Fodays Gipsverband an und zieht dann die zwei Hälften mit einem Geräusch wie von splitterndem Holz auseinander. Eine dünne Schicht von Gipsstaub legt sich auf den Fußboden und seine Füße. Er richtet die Gelenkarmleuchte auf den Fuß und überprüft sorgfältig die einzelnen chirurgischen Einschnitte. Sie scheinen in dem Monat seit der OP gut verheilt zu sein. Der Gipsverband ist seither schon einmal gewechselt worden. »Geben Sie mir eine Taschenlampe«, sagt er zur Schwester. »Und jemand soll feststellen, ob Seligmann im Haus ist.«
    Kai bewegt den Strahl der Taschenlampe zentimeterweise über Fodays Fußsohle, deren Haut nach den Wochen in Gips trocken ist und abblättert.
    »Halten Sie bitte das Bein hoch.«
    Jetzt untersucht er die lange Sehnennarbe. Da. Beim ersten Mal hatte er sie übersehen. Eine Fistelöffnung über dem Narbengewebe. Er nimmt ein Skalpell und macht dicht an der verheilenden Wunde einen kleinen Einschnitt, drückt dann mit den Fingerspitzen. Ein dicker Strahl von Eiter spritzt hervor. Seligmann kommt durch die Schwingtür herein, stößt einen langen leisen Pfiff aus und schüttelt den Kopf.
    »Was für ein Land. Alles verrottet. Der Kompost muss bei Ihnen prächtig gedeihen.« Er beugt sich über Fodays Bein. »Wundtoilette. Débridement. Exzision etwaigen nekrotischen Gewebes.« Er schnaubt durch den Mundschutz. »Reine Routinemaßnahmen. Trotzdem, wie es aussieht, wirft uns das ein bisschen zurück.«
    Wie spät ist es? Mitternacht? Eins? Er weiß es nicht, und wenn er es sich recht überlegt, ist es ihm auch egal. Er liegt auf dem Rücken und starrt auf die Sterne. So, und wo ist jetzt der Große Wagen? Er hat noch nie, ums Verrecken nicht, nachvollziehen können, warum er so heißt. Verschiedene Leute haben schon versucht, ihn ihm zu zeigen, haben ihn auf die Form hingewiesen, aber er konnte sie nicht sehen. Er konnte es überhaupt nicht sehen. Er hickst, rülpst dann feucht. Er ist betrunken.
    Nenebah. Er hätte sie so gern berührt. Einfach ihre Hand gehalten. Ihre Haut gespürt. Früher hatte er ihr gern mit einer Hand sanft von der Seite an den Hals gefasst. Sie legte dann den Kopf schief und klemmte seine Finger ein.
    Wie leicht sie damals von Liebe sprachen! Und doch, als sie eine Bestätigung seiner Gefühle gebraucht hatte, hatte er zugelassen, dass sie ihm entglitt, war er unfähig gewesen, ihr zu erklären, was sich in ihm verändert hatte. Er hatte nicht geschafft, es ihr zu sagen, und dadurch zugelassen, dass Nenebah zu dem Schluss gelangte, sie sei das Problem.
    Irgendetwas stößt ihm seitlich an den Kopf, ein Stück Holz, etwas Verteertes, ein Stück altes Styropor. Er richtet sich im Wasser auf, strampelt mit den Beinen, wird von einer vorüberziehenden kleinen Welle erfasst und kurzzeitig überspült. Er wischt sich über das Gesicht und schaut zum fernen Ufer. In der Strandbar, zu der er spätabends, vom Barkeeper salbungsvoll begrüßt, zurückgekehrt ist, sind noch immer Leute. In Erinnerung an den Frieden, den ihm das nachmittägliche Bad geschenkt hatte, ist Kai zum zweiten Mal an diesem Tag ins Meer gegangen. Hat sich wie ein Boot treiben lassen, dessen Insassen alle ertrunken sind. Ein pechschwarzer vollkommener Frieden.
    Er legt den Kopf ins Wasser zurück und sucht nach dem Großen Wagen. Er sollte allmählich nach Hause fahren. Er hebt den Kopf noch einmal, folgt mit den Augen den Lichtkegeln eines Autos auf der langen Uferstraße.
    Was soll’s, denkt er und lässt den Kopf auf sein Wasserkissen zurückfallen.

50
    Eine silberne See, glatt und still, darauf die Spiegelung einer Möwe, am Himmel ein paar Wolken, elliptisch geformt, wie eine Schule von Tümmlern. Weitere Möwen sitzen hier und da ungestört auf dem Wasser. Am Spülsaum eine Mutter und ihr Knirps. Der Kleine, er trägt rote Gummistiefelchen, platscht durch das seichte Wasser vor der Mutter her und schaut dabei alle naselang über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass sie auch nachkommt. Adrian kann die durch die Fensterscheibe gedämpfte Stimme der Mutter hören. Sie lächelt und ruft dabei gleichzeitig Warnungen aus. Ein vollkommener Herbsttag, denkt Adrian. Damit beschäftigt, zurückzuschauen, driftet das Kind, ohne es zu merken, ins Meer ab; Wasser spritzt auf und in seine Stiefel hinein. Jetzt zieht sie ihm die Mutter aus und gießt erst aus einem, dann aus dem anderen das Wasser aus. Sie hält dabei das Kind mit einem Arm an sich gedrückt; seine

Weitere Kostenlose Bücher