Lied aus der Vergangenheit
kaut dabei an seiner Unterlippe.
»Sie wissen doch, was ein Videorekorder ist, oder?«
Adecali nickt ein Mal, langsam.
Na, Gott sei Dank. »Dann wissen Sie also auch, wie man einen bedient?«
Adecali schüttelt den Kopf.
Adecali ist gegangen, und Adrian ist mit der Niederschrift des Sitzungsprotokolls zur Hälfte durch, als er den Stift hinlegt, aufsteht und ans Fenster geht. Das Fischerkanu ist verschwunden. Ein Frachter kriecht, fast unmerklich, den Horizont entlang. Wenn es nur so einfach wäre, denkt er, die Vergangenheit zurückzuspulen! Wohin könnte er zurückkehren? Wie weit würde er zurückgehen? Was, wenn überhaupt, würde er anders machen?
Fast sechs Monate lang hat sich Adrian Elias Coles Geschichte angehört; Cole hat ihn als Beichtvater benutzt. Die Frage ist, warum. Nach Adrians Erfahrung kommt es durchaus vor, dass ein Patient, um eine unangenehme Wahrheit – vor sich selbst ebenso sehr wie vor anderen – zu verheimlichen, etwas Unwichtigeres eingesteht. Der Therapeut bekommt die Rolle des Richters und der Jury zugeteilt. Akzeptiert er die vorgetragene Version der Ereignisse, betrachtet sich der Patient als freigesprochen.
Was ist also Elias Coles wahre Geschichte?
Als Adrian hereinkommt, wird Elias Cole gerade gewaschen. Er liegt mit nacktem Oberkörper da, während Babagaleh ihm einen Arm hochhält und dessen Unterseite mit Wasser aus einer großen Schüssel abwischt, die auf dem Nachttisch steht. Der alte Mann ist mitleiderregend mager, der Schatten seiner Rippen beidseits des Brustbeins sichtbar. Die schlaffe Haut hängt von den Knochen herunter, ein über einen Haufen Stöcke geworfenes Tuch.
»Bleiben Sie, bleiben Sie«, als Adrian sich wieder zurückziehen will. »Babagaleh ist ohnehin fertig.« Er fordert Adrian mit einer Geste auf, sich zu setzen. Und zu Babagaleh: »Geh jetzt. Komm später wieder.«
Babagaleh trocknet den alten Mann ab, zieht die Laken über seine Brust hoch und schlägt sie ordentlich um. Ohne Eile nimmt er Waschschüssel, Seife und Handtuch auf und verlässt das Zimmer.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragt Adrian. Der Sauerstoffkonzentrator ist nirgends zu sehen. Mrs Mara hat ihn offenbar wieder abholen lassen.
»So wie ich aussehe. Mir war zeitweise unwohl, aber jetzt geht es mir ein bisschen besser, wenngleich meine Flugbahn ihre Richtung beibehält.« Er lächelt schmal. »Wie geht es Ihnen?«
»Gut, danke.«
»Sie sehen irgendwie etwas verändert aus. Lassen Sie sich anschauen.« Cole legt den Kopf schief und betrachtet Adrian. »Sie sehen ziemlich feierlich aus, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten. Ich hoffe, es ist alles in Ordnung.«
»Durchaus«, sagt Adrian und ringt sich ein Lächeln ab. Er zieht seinen Stuhl näher ans Bett heran, beschließt, gleich zum Thema zu kommen. »Ist Ihnen das Gefangenendilemma ein Begriff?«
»Das Gefangenendilemma? Ja, ich habe mich ein wenig mit der Problemstellung befasst. Liegt allerdings eine Weile zurück.«
»Wie würden Sie dieses Dilemma beschreiben?«
»Zwei Männer sitzen wegen derselben Straftat in Untersuchungshaft. Die Polizei hat nicht genügend Beweismaterial für eine Anklage gegen einen von beiden, also bietet sie jedem Gefangenen einen Handel an, falls er gegen den anderen aussagt. Beide bekommen das gleiche Angebot, und das lautet in groben Zügen: Wenn beide schweigen, werden beide einer minder schweren Straftat angeklagt. Wenn einer dagegen den anderen verrät, kommt er selbst ungeschoren davon, während der andere eine umso höhere Strafe erhält.«
»Richtig«, sagt Adrian. »Und wenn sie beide gestehen, fällt ihre Strafe höher aus, als wenn sie beide geschwiegen hätten, aber niedriger, als wenn einer vom anderen verraten worden wäre.«
»Sie sprechen von mir und Julius.«
»Spieltheorie. Dieses bestimmte Spiel wurde von einem Mathematiker in den Fünfzigerjahren entwickelt. Es wird seitdem zur Analyse der verschiedensten Situationen angewendet.«
Der alte Mann atmet ein und dann langsam wieder aus. »Ich verstehe.«
»Es ist kein Nullsummenspiel, das heißt, es bietet die Möglichkeit der Kooperation. Es gibt eine Entscheidung, von der beide Spieler profitieren.« Er beobachtet aufmerksam Elias Coles Gesicht.
»Ja, wie gesagt, ich bin mit der Problemstellung vertraut. Mir ist nicht klar, inwiefern sie auf mich und Julius anwendbar ist – wenn man davon absieht, dass wir beide im wörtlichen Sinne Gefangene waren. Was Sie natürlich übersehen, ist die Tatsache, dass ich nichts
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